© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/22 / 08. April 2022

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Die Blamage kaschieren
Paul Rosen

Wenn sich die Regierung ihrer Mehrheit im Parlament nicht sicher ist, greift sie zu einem bekannten und bewährten Mittel, um den Verlust der Mehrheit und die darauffolgende Blamage zu kaschieren. Das Mittel heißt Gruppenantrag und bedeutet, daß sich Abgeordnete aus unterschiedlichen Fraktionen zusammenfinden, einen Antrag oder einen Gesetzentwurf gemeinsam formulieren und dann für eine Mehrheit im Parlament werben. Der Öffentlichkeit wird dies gern als Sternstunde des Parlaments verkauft, weil die Abgeordneten dann ohne Fraktionszwang eine Entscheidung treffen könnten.

Dabei sollte dieses Verfahren eigentlich der Normalzustand statt die Ausnahme sein. Denn Begriffe wie Fraktionszwang und Koalitionsverträge, die das Recht der einzelnen Abgeordneten zum eigenverantwortlichen Handeln einschnüren, kommen in der Verfassung nicht vor. Dort heißt es, der Abgeordnete sei allein seinem Gewissen verpflichtet – eine Bestimmung, die längst von der Realität ausgehöhlt worden ist wie ein Kürbis.

Der bekannteste Gruppenantrag ist wohl der 1991 gestellte Antrag mit dem Titel „Vollendung der Einheit Deutschlands“, mit dem der Deutsche Bundestag damals noch in Bonn den Umzug von Regierung und Parlament nach Berlin beschloß. 

Gruppenanträge betrafen in der Vergangenheit zumeist sehr emotional in der Bevölkerung und auch von den Politikern diskutierte Themen. So kam im Jahr 1992 die Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen auf die Tagesordnung des Parlaments, und nach einer Diskussion bis in die Nacht wurde ein Gruppenantrag mit einer Fristenlösung angenommen, die allerdings später vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde. Weitere Gruppenanträge betrafen das Thema Sterbehilfe im November 2015 und die Präimplantationsdiagnostik im April 2011.

Bei den jetzt eingebrachten Gruppenanträgen zur Einführung einer Impfpflicht gibt es allerdings Auffälligkeiten. So finden sich zum Beispiel in beiden Anträgen zur Einführung einer Impfpflicht entweder ab 18 (wurde schon vor der Abstimmung wieder zurückgezogen) beziehungsweise im zweiten Antrag mit einer Impfpflicht ab 50 Jahren nahezu identische Formulierungen, man brauche die Impfpflicht, um die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems in den kommenden Herbst- und Wintermonaten einzudämmen. Dies läßt darauf schließen, daß beide Anträge entweder von der Bundesregierung formuliert worden sind – oder hier einer vom anderen abgeschrieben hat.

Ziemlich wortgleich kommt auch die Begründung für die Einbeziehung der privaten Krankenversicherung in das Kontroll- und Überwachungssystem der Bevölkerung daher. Mit der Übertragung dieser Aufgaben auf die private Krankenversicherung wird deren Versicherungscharakter aufgeweicht, und sie erhalten Aufgaben wie eine gesetzliche Krankenkasse. Daß damit de facto der erste Schritt in Richtung einer Gleichschaltung aller Krankenversicherungen zur Bürgerversicherung unternommen wurde, blieb in der Debatte leider unbemerkt.