© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/22 / 08. April 2022

Radikaler Kahlschlag
Bundeswehr: Von der einstmals kampfstarken Flugabwehr ist nicht mehr viel übrig
Peter Möller

Bei den Einsparungen, die die Bundeswehr in den vergangenen 30 Jahren im Zuge immer neuer Reformen und Sparrunden über sich ergehen lassen mußte, hat sich der dabei erfolgte Kahlschlag bei der Flugabwehr als besonders verhängnisvoll erwiesen. Von der einstmals kampfstarken Truppengattung, die darauf ausgerichtet war, bei einem Angriff der sowjetischen Panzerarmeen in Mitteleuropa die Truppen der Bundeswehr und ihrer Nato-Verbündeten gegen Angriffe aus der Luft abzuschirmen, ist nichts mehr übrig.

War die zunächst nach 1990 erfolgte zahlenmäßige Reduzierung der Flugabwehrtruppe aufgrund der geänderten Bedrohungslage durchaus noch nachvollziehbar, so kann der 2010 einsetzende radikale Kahlschlag nicht erst seit dem Angriff Rußlands auf die Ukraine als schwerer politischer Fehler gewertet werden, durch den in der Flugabwehr im Nahbereich eine sogenannte „Fähigkeitslücke“ entstanden ist. Mit anderen Worten: Die eigene Truppe kann den Schutz gegen Luftangriffe im Nahbereich etwa durch tieffliegende Kampfflugzeuge oder Hubschrauber nicht mehr gewährleisten.

Von 14 Regimentern blieben am Ende nur noch Reste

Diese aus dem permanenten Sparzwang erfolgte Zerschlagung gipfelte 2012 in der Auflösung der Heeresflugabwehrtruppe mit ihrer Truppenschule im schleswig-holsteinischen Rendsburg. Die Flugabwehr ging weitgehend in die Verantwortung der Luftwaffe über. Von den ehemals 14 Regimentern, die mit dem Flak-Panzer Gepard und dem Flugabwehrraketenpanzer Roland ausgestattet waren, blieben nur noch Reste. 

Die Statistik spricht eine deutliche Sprache: Am Ende des Kalten Krieges 1990 verfügte die Bundeswehr für die Flugabwehr im Nahbereich über 443 Gepard-Panzer und 143 Roland-Panzer und war damit auf Augenhöhe mit den Streitkräften der Vereinigten Staaten. Bis 2010, vor dem finalen Kahlschlag, schmolz der Bestand ab auf immerhin noch 91 Geparde und 120 Roland-Systeme sowie 50 Ozelot, leicht gepanzerte Kettenfahrzeuge vom Typ Wiesel, die mit Stinger-Raketen ausgerüstet sind. Doch von dieser immer noch ansehnlichen Streitmacht waren 2020 nur noch 19 Ozelot-Fahrzeuge übrig.

Daß beispielsweise der Gepard nicht etwa ausgemustert wurde, weil er veraltet war, zeigt sich daran, daß die bei der Bundeswehr aussortierten Exemplare teilweise nun in der rumänischen Armee zum Schutz der Nato-Ostflanke eingesetzt werden. Und wenn im Dezember im Wüstenstaat Katar die Fußballweltmeisterschaft beginnt, werden die Stadien von 15 modernisierten Gepard-Panzern gegen Angriffe mit Drohnen geschützt.

Besser als beim Schutz mobiler Truppenteile im Nahbereich sieht es bei der Flugabwehr im Fernbereich aus, für die der Bundeswehr das Raketensystem Patriot zur Verfügung steht, daß gegen Kampfflugzeuge, aber auch gegen Marschflugkörper eingesetzt werden kann. Doch auch hier wurde in der Vergangenheit die Zahl der Systeme reduziert, zudem mangelt es wie überall in der Bundeswehr an Munition.

Diese faktische Zerschlagung der Flugabwehr für den Nahbereich wiegt seit dem vermehrten Aufkommen von Drohnen auf dem Gefechtsfeld besonders schwer. Der Ukraine-Krieg und mehr noch der Konflikt Aserbaidschans und Armeniens um Bergkarabach 2020 haben gezeigt, daß Kampf- und sogenannte Selbstmorddrohnen für feindliche Fahrzeuge wie Panzer oder Artillerie, aber auch Kommandostände zu einer tödlichen Gefahr werden. Die kleinen Flugobjekte können in geringer Höhe fliegen, sind sehr wendig und vom Radar aufgrund ihrer geringen Radarsignatur und der zahlreichen Störsignale in Bodennähe nur schwer zu erfassen.

Der Bundeswehrführung sind die Schwächen der eigenen Truppe, die von der Politik herbeigeführt worden sind, natürlich bewußt. Es ist daher kein Zufall, daß Generalinspekteur Eberhard Zorn bei der Entscheidung, wie die in Aussicht gestellten 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr am besten investiert werden sollen, nicht zuletzt auch die Stärkung der Fähigkeiten der Truppe zur Flugabwehr im Auge hat. „Wir unterscheiden zwischen drei Ebenen des Schutzes: Die erste ist der Schutz der beweglichen Kräfte am Boden. Da haben wir nur noch geringe Fähigkeiten, aber schon in der letzten Legislaturperiode die Anschaffung neuer Systeme angestoßen“, sagte Zorn der Welt am Sonntag. Das müsse nun umgesetzt werden. „Die mittlere Schicht wird durch das Patriot-Abwehrsystem geschützt, das modernisiert werden muß. Die dritte Schicht bezieht sich auf den Schutz vor Raketen, die etwa in Kaliningrad stehen, die berüchtigten Iskander. Sie können fast alle Ziele in Westeuropa erreichen, und es fehlt ein Abwehrschirm“, sagte er mit Blick auf die von Bundeskanzler Olaf Scholz Ende März angestoßene Diskussion über die Errichtung eines Raketenschutzschirms für Deutschland.

Der oberste Bundeswehr-Soldat sieht hier noch klärungsbedarf: „Die Israelis und die Amerikaner verfügen über die entsprechenden Systeme. Welchem von beiden geben wir den Vorzug? Schaffen wir es, ein Gesamtsystem in der Nato aufzubauen? Diese Fragen müssen wir nun beantworten.“ Bisher sei nur eines klar: „Wir haben weder die Zeit noch das Geld, diese Systeme selbst zu entwickeln. Denn die Raketenbedrohung ist bereits vorhanden und bekannt.“

Reaktivierung des Gepard-Panzers bietet sich übergangsweise an

Anders sieht es bei der notwendigen Aufrüstung bei der Flugabwehr im Nahbereich aus. Hier gibt es bereits mit dem von Rheinmetall entwickelten Skyranger ein einsatzfähiges mobiles Flugabwehrsystem zum Schutz von mechanisierten Verbänden oder Konvois gegen Angriffe aus der Luft, das dem Vernehmen nach auf der Einkaufsliste des Verteidigungsministeriums steht und mit seiner 35-Millimeter-Maschinenkanone auf dem Fahrgestell des Radpanzers Boxer helfen könnte, die Fähigkeitslücke zu schließen. Zumindest für eine Übergangszeit böte sich zudem die Reaktivierung des Gepard-Panzers an. Im Zuge des Ukraine-Konfliktes wurde bekannt, daß 50 Exemplare des Flugabwehrpanzers bei der Industrie zwischengelagert sind. Bei einer entsprechenden Modernisierung könnten die Panzer nach Ansicht von Experten die Fähigkeit der Bundeswehr zur Flugabwehr entscheidend verbessern, bis neue Systeme wie etwa der Skyranger in ausreichender Zahl vorhanden sind.

Wie auch immer die Militärplaner im Verteidigungsministerium entscheiden: Bereits jetzt scheint klar, daß die von der Politik leichtfertig verursachte gefährliche Fähigkeitslücke der Bundeswehr bei der Flugabwehr mittelfristig der Vergangenheit angehören wird.

Foto: Soldaten der Flugabwehrraketengruppe 21 der Luftwaffe: Faktische Zerschlagung der Flugabwehr setzte ab 2010 ein; General-inspekteur Eberhard Zorn mit Kanzler Olaf Scholz (SPD)