© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/22 / 08. April 2022

Die Balten hängen am seidenen Faden
Die Suwałki-Lücke als Achillesferse der Nato: Wenn die Allianz ihre Kräfte an der Ostflanke verdoppelt, stärkt sie die Abschreckung, aber noch nicht die Verteidigung. Das Militärpotential dort hat sich zuungunsten der Nato verschoben
Christian Rudolf

Einen Monat nach dem Angriff Rußlands auf die Ukraine wandte sich deren Präsident Wolodymyr Selenskyj mit einer Warnung an Schweden. In seiner per Video übertragenen Rede vor dem Reichstag in Stockholm sagte Selenskyj am Donnerstag vor zwei Wochen: „Ihr Schweden seid auch bedroht. Russische Medien bringen Informationen über Pläne, Gotland zu erobern“ – und er warnte, Rußland könne die Ostsee einnehmen.

Wie gut der ukrainische Präsident informiert war, zeigt ein Blick auf das Programm des russischen Staatssenders „Rossija 1“. Dieser strahlte Anfang Dezember 2021, zu einem Zeitpunkt also, als der Aufmarsch der russischen Invasionsarmee an den ukrainischen Grenzen bereits in vollem Gange war, in der Abendsendung „60 Minuten“ ein Szenario zur Eroberung der baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland aus. Der strategische Schlüssel dazu: die schmale Landverbindung zwischen Polen und Litauen zu erobern und so das Baltikum von Polen und dem westeuropäischen Nato-Gebiet abzuschneiden. Die polnische Kleinstadt Suwałki gab diesem Korridor, in Nato-Terminologie Suwalki Gap („Lücke“) genannt, den Namen.

Moderator Igor Korottschenko, Chefredakteur der Militärzeitschrift Nationale Verteidigung und früheres KPdSU-Mitglied, erklärt unter höhnischem Grinsen seiner Gäste die vier operativen Schritte dazu: Russische Streitkräfte schalten durch einen massiven elektronischen Angriff die Radare der Nato aus und besetzen die strategisch wichtige schwedische Insel Gotland. Transportflugzeuge stationieren Boden-Luft-Raketen S-400 und das Schiffsabwehrraketensystem vom Typ „K-300 Bastion“ und richten im Radius von 400 Kilometern eine Flug- und Schiffsverbotszone ein. Die Ostsee ist gesperrt.

Sodann stoßen russische Bodentruppen aus der Exklave Kaliningrad (Königsberg) auf die polnisch-litauische Grenze vor und vereinigen sich mit den aus Südosten entgegenkommenden weißrussischen Truppen. Die Luftlinie nur 65 Kilometer lange Grenze ist geschlossen, der Korridor besetzt, die baltischen Staaten von Polen und den Nato-Verbündeten komplett isoliert.

Zuletzt besetzen Spezialeinheiten die Hauptstädte Tallinn, Riga und Wilna und rufen „Volksrepubliken“ aus – ganz nach dem aus Sicht Moskaus bewährten Muster in den zwei ukrainischen Oblasten Donezk und Luhansk 2014. Reguläre Bodentruppen aus dem westlichen Militärbezirk der Russischen Föderation marschieren in Estland, Lettland und Litauen ein und beenden den letzten Teil der Operation. Die Balten sitzen in der Falle.

Kraftmeierische Worte eines Kreml-Propagandisten für das heimische Publikum? Eine Drohung gegen die Nato? Ob das entworfene Szenario zur Eroberung der Ostseeküste durch Rußland so glatt funktionieren würde, sei dahingestellt – zumal nach Moskaus verstolpertem „Blitzkrieg“ gegen die Ukraine. Doch daß den Ankündigungen Taten folgen können, weiß die Welt spätestens seit dem 24. Februar.

Entsprechend aufgeschreckt ist man in der Nato. Die Lücke als Achillesferse des Bündnisses ist wieder in den Fokus geraten. Litauens Präsident Gitanas Nausėda äußerte auf dem jüngsten Nato-Gipfel in Brüssel seine Beunruhigung über die Sicherheit an den Grenzen seines Landes. Und kaum eine polnische Zeitung oder politische Talkshow, die dieser Tage nicht die Bedrohung der Region thematisiert. Die Nato hat kurzfristig die Zahl ihrer Soldaten in den verstärkten Bataillonen in den baltischen Republiken und Polen verdoppelt. Auf dem Gipfel wurde gemeinsam beschlossen, vier weitere dieser Battlegroups im Südosten zu stationieren. In der Praxis wären das 40.000 Soldaten unter Nato-Kommando.

Luft- und Raketenabwehrsystem von Moskau und Minsk integriert

„Polen würde es begrüßen, wenn die Amerikaner künftig ihre Präsenz in Europa wegen der zunehmenden Aggressivität Rußlands von derzeit 100.000 Soldaten auf 150.000 Soldaten erhöhen würden“, sagte Polens Vize-Premier Jarosław Kaczyński im Interview mit Welt online vom vergangenen Sonntag. 75.000 Soldaten sollten nach Kaczyńskis Wunsch fest an der Ostflanke, an den Grenzen zu Rußland, stationiert werden, 50.000 Soldaten davon im Baltikum und in Polen. „Die Ostflanke muß in Zukunft viel besser geschützt werden als bisher.“

In dem neuralgischen Abschnitt einer seenreichen Landschaft mit schroffen Hügeln liegen im Norden das knapp 70.000 Einwohner zählende Suwałki und im Süden der Kurort Augustów mit 30.000 Bewohnern. Rund ein Dutzend Straßen, darunter zwei Nationalstraßen, eine Eisenbahnlinie und eine Hochspannungsleitung überqueren die polnisch-litauische Grenze auf dieser Breite. Auch im Luftraum über der Landenge herrscht reger ziviler Flugverkehr, seit im Mai letzten Jahres wegen der durch Minsk erzwungenen Landung einer Ryanair-Maschine der Großteil europäischer Fluglinien begann, Weißrußland zu umfliegen.

Unweit Suwałki befindet sich ein militärisches Langstreckenradar. Es gehört zu einem Netz von Funkortungsposten, die entlang der Ostflanke der Nato eingerichtet wurden. Die 2015 in Betrieb genommene LitPol-Verbindung, die einzige Stromverbindung zwischen den baltischen Staaten und Polen sowie Zentraleuropa, verläuft durch die Landenge von Suwałki. Sowohl für Verteidiger wie für Angreifer, die schnell Truppen und Gerät über die Grenze bringen müßten, ist das Terrain ungünstig – kurvenreiche, oft enge Straßen, halb Asphalt, halb Schotter. Straßenschilder vor Brücken weisen allenthalben auf ein zulässiges Höchstgewicht von Fahrzeugen von maximal 20 Tonnen, zu wenig für Panzer. Außerhalb der Straßen Seen, Flußläufe, Sumpf.

Potentielle Bedrohungen für die Anrainerstaaten Polen, Litauen sowie die ganze Europäische Union gehen vom Königsberger Gebiet aus sowie von dem mit Moskau eng kooperierenden Weißrußland. 

Die weißrussischen Streitkräfte umfassen nominell rund 45.000 Soldaten, dazu noch etwa 12.000 Soldaten bei den Truppen des Innenministeriums, die Machthaber Alexander Lukaschenko zuletzt 2020/21 zur Unterdrückung von Protesten gegen seine Herrschaft einsetzen ließ. Polnische Experten gehen davon aus, daß nur etwa 10.000 Soldaten tatsächlich einen Kampfwert hätten und möglicherweise bei Einsätzen gegen die Ukraine noch verwendet werden könnten. Die beiden Brigaden der Luftlandetruppen gelten als die am besten ausgebildeten und ausgerüsteten. Sie sind auch am stärksten mit den russischen Streitkräften im westlichen Militärbezirk Rußlands integriert.

Durch die enge militärische Zusammenarbeit Moskaus mit Minsk sind die Luft- und Raketenabwehrsysteme beider Länder integriert. Rußland unterhält offiziell ein riesiges Radar bei Baranawi­tschi zum Aufspüren ballistischer Raketen aus dem Westen. Am Längstwellensender Wilejka im Bezirk Minsk stellen 350 Offiziere der russischen Kriegsmarine die Kommunikation der Baltischen Flotte sicher. Von hier werden Nachrichten an getauchte U-Boote übermittelt. Da der 1.000-kW-Sender eine Reichweite von mehr als 10.000 Kilometern hat, sind auch U-Boote, die in atlantischen Nato-Gewässern schippern, von hier aus steuerbar.

Beide Staaten veranstalten regelmäßig gemeinsame Manöver, das größte davon ist Sapad (russ. „Westen“), das im Vierjahresrhythmus stattfindet, zuletzt im September 2021 mit rund 200.000 Soldaten. Nach Nato-Erkenntnissen ließ Moskau im Zuge des russischen Aufmarsches entlang der ukrainischen Grenzen Anfang des Jahres 30.000 Soldaten in Weißrußland stationieren – samt atomar bestückbarer Mittelstreckenraketen vom Typ „Iskander“, Kampfflugzeugen und der Luftabwehrsysteme S-400. Moskau nannte eine Zahl von 13.000 Soldaten. Diese Truppen sind bisher nicht wieder abgezogen und verändern das Militärpotential in der Region zuungunsten der Nato.

Vom Königsberger Gebiet nach Berlin in sechs Minuten Flugzeit

Die Kaliningrader Oblast wiederum ist eine der am stärksten hochgerüsteten Gegenden der Welt. Eine schwerbewaffnete Garnison, ein Brückenkopf mitten in Nato-Gebiet und Rußlands „zweiter Flugzeugträger“ – neben der „Admiral Kuznezow“. Mindestens 15.000 Soldaten sollen nach Nato-Erkenntnissen von 2020 dort stationiert sein. „Die teilweise ausgerüstete 18. mechanisierte Division ist ebenfalls dort stationiert, und wahrscheinlich ist eine weitere Division stark umgruppiert. Es handelt sich um eine Stabseinheit, die aber über die nötige Ausrüstung verfügt“, erklärte General Waldemar Skrzypczak, ehemaliger Befehlshaber der polnischen Landstreitkräfte, dieser Tage in einem Interview mit der polnischen Boulevardzeitung Fakt.

Geschützlärm und Explosionen von Raketen während häufiger Manöver sind in den angrenzenden litauischen und polnischen Landkreisen für die Bewohner lästiger Alltag. Der Hafen von Pillau (Baltijsk) ist Hauptstützpunkt der Baltischen Flotte. Unter den Kampfschiffen verschiedener Typen bietet die Raketenkorvette „Bujan-M“ die größte Raketenkapazität, schreibt das polnische Militärportal defence24.pl: Sie kann mit acht Marschflugkörpern vom Typ 3M14 „Kalibr“ bewaffnet werden. Die „Kalibr“ mit mehr als 2.000 Kilometer Reichweite wurde, abgeschossen vom Kaspischen Meer, von Rußland bereits gegen Ziele in Syrien und jetzt in der Ukraine eingesetzt und ist mit Streumunition wie auch nuklear bestückbar.

Seit 2016 hat Rußland auch im Gebiet Königsberg Iskander-Raketen aufgestellt. Anders als von den russischen Streitkräften angegeben, könne die Cruise-Missile nicht bloß 480 Kilometer weit ins Ziel fliegen, sondern bis zu 2.600, ist das US-Militär überzeugt. Sämtliche europäischen Hauptstädte würden damit innerhalb des Radius liegen.

Anlaß zu noch größerer Sorge über die Möglichkeit eines Blitz-Angriffs auf Ziele in Mittel- und Westeuropa, ohne in den Luftraum des Nato-Bündnisses eindringen zu müssen, stellt die Stationierung der neuen russischen Hyperschallrakete Ch-47M2 „Kinschal“ dar. Ein Amateurvideo, getwittert am 8. Februar, zeigt eine MiG-31K, die zur Landung auf dem Militärflughafen Kaliningrad-Tschkalowsk (dt. Tannenwalde) ansetzt. Unter dem Rumpf deutlich auszumachen die mächtige Kinschal. Dies ist die erste Sichtung dieser Hyperschallwaffe direkt an der Nato-Grenze, so das Portal defence24.pl, das dem Ereignis einen großen Bericht widmete. Die MiG-31 seien hier gewöhnlich nicht zu Hause, so das US-Magazin Forbes. Wie das Fachmagazin Flugrevue schreibt, ist die modifizierte MiG-31K das bisher einzige Kampfflugzeug, das die mehrere Tonnen schwere Kinschal führen kann. In der Luft ausgeklinkt, steuert die Luft-Boden-Lenkwaffe mit bis zu zehnfacher Schallgeschwindigkeit das Ziel an – für herkömmliche Raketenabwehr kaum abzufangen. Über dem Luftraum Königsberg mit Ziel Berlin abgefeuert, schlägt sie sechs Minuten später im Stadtgebiet ein. In der Nato-Systematik trägt die Rakete nicht von ungefähr den Namen AS-24 Killjoy – „Spielverderber“. Rußland hatte nach eigenen Angaben die neue Waffe am 18. März erstmals gegen Ziele in der Ukraine eingesetzt. Auch die Kinschal ist mit Nukleargefechtsköpfen bestückbar.

Angesichts des viel weiter reichenden feindlichen Potentials in der Region zieht General Skrzypczak die vorgeblich überragende strategische Bedeutung des Suwałki-Korridors in Zweifel: „Die Landenge von Suwałki, von der es heißt, daß sie von den Russen angegriffen würde, ist ein sehr schwieriges Gebiet.“ Im Falle des Falles würden die Russen die Suwałki-Lücke umgehen. „Denn nördlich davon befindet sich die litauische Tiefebene, wo es flache Gebiete gibt, durch die sie spazieren können, wenn sie wollen“, so Skrzypczak gegenüber Fakt.

Im Falle eines Sieges der russischen Streitkräfte über die Ukraine wäre die Verteidigungssituation für Polen und die gesamte Region ohnedies eine weit dramatischere: Dann stünden russische Truppen nicht bloß im Nordosten in Kaliningrad und Weißrußland, sondern dicht jenseits der gesamten polnischen Ostgrenze bis hinunter in die Karpaten. Die polnische Armee könnte ihre Kräfte nicht mehr nur auf einen Abschnitt konzentrieren. Nicht mehr die Verteidigung der Balten, sondern der Schutz der Hauptstadt Warschau, von Rzeszów, Krakau und im weiteren des oberschlesischen Industriegebiets vor einem russischen Durchmarsch über die polnische Tiefebene hätte dann oberste Priorität. Käme es so, wäre auch Deutschland nicht mehr sicher: Die Bundeswehr ist unfähig, auch nur eine kampffähige Brigade zusammenzustellen (siehe auch Seite 6).

Foto: Übung der Luftabwehreinheiten der russischen Baltischen Flotte mit Flugabwehrraketensystem S-400 Triumph auf dem „Startplatz“ (Schildaufschrift), Gebiet Königsberg (Archivbild): Im russischen Staatsfernsehen wird ganz offen progagiert, zur Vorbereitung eines Angriffs auf die baltischen Staaten mit der S-400 den Himmel für westliche Flugzeuge zu sperren