© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/22 / 08. April 2022

Grüße aus … San Francisco
Weiche Schattenseiten
Elliot Neaman

Die Einwohner von San Francisco, einer der reichsten Städte der Welt, haben ein großes Problem. Die Straßen der Stadt sind voll von Obdachlosen, die auf der Straße schlafen, ihren Kot abladen, ihren Müll verstreut liegenlassen und oft Fußgänger verbal oder körperlich angreifen. Warum, so fragen sie sich, kann die Stadt das nicht in Ordnung bringen?

Jahrzehntelang beschränkte sich das Obdachlosenproblem hauptsächlich auf das berühmt-berüchtigte Tenderloin. Mindestens seit den 1940er Jahren hat Tenderloin den Ruf, die „weiche Schattenseite“ der Stadt zu sein (daher der Name), wo Glücksspiel, Prostitution und Drogen ein schäbiges Erlebnis für Nachtschwärmer boten.

In jüngster Zeit jedoch haben sich die Lager von Obdachlosen, die entweder in Säcken oder Decken schlafen oder in spontan gegründeten Zeltgemeinschaften leben, weit über Tenderloin hinaus ausgebreitet und den öffentlichen Druck auf die Stadtverwaltung erhöht, das Problem endlich zu lösen.

Der berühmte Flower-Power-Ansatz San Franciscos funktioniert im Jahr 2022 längst nicht mehr. 

Im Laufe der Jahre wurden viele Millionen Dollar für verschiedene Lösungen ausgegeben. Hotels wurden gekauft und in kostenlose oder kostengünstige Obdachlosenunterkünfte umgewandelt. Die Stadt hat von Grundstücksentwicklern verlangt, daß beim Bau eines Apartmentkomplexes preisgünstige Wohnungen Teil des Projekts sind. Keine dieser Lösungen hat sich bewährt. Die Zahl der Obdachlosen wächst weiter, die Kriminalität nimmt zu, und die relative Attraktivität San Franciscos als Zufluchtsort für Obdachlose hat es für Herumtreiber und Drogensüchtige aus anderen Teilen der USA noch attraktiver gemacht.

Eine neue Koalition namens „Urban Vision Alliance“ versucht einen neuen Ansatz. Sie hat 32 Partner aus dem öffentlichen und privaten Sektor zusammengebracht, um Geld zu beschaffen, nicht nur um mehr Obdachlosenunterkünfte zu bauen, sondern auch um Beschäftigungsmöglichkeiten zu finanzieren, medizinische Einrichtungen für psychische Erkrankungen und Drogenmßsbrauchsprobleme bereitzustellen. 

Ein zentrales Problem ist jedoch, daß viele Obdachlose nicht in Unterkünften leben wollen und auch keine Hilfe wünschen. Sie ziehen es tatsächlich vor, auf der Straße zu leben. Randy Shaw, der Leiter der Tenderloin Housing Clinic und ein Fürsprecher der Obdachlosen, erklärte kürzlich ganz unverblümt: „Solange man nicht die Politik mit den Unterkünften verfolgt, die besagt: ‘Wir werden die Polizei gegen Leute vorgehen lassen, die keine Unterkunft akzeptieren’, würde ich den Prozeß nicht noch einmal beginnen.“ Mit anderen Worten: Der Flower-Power-Ansatz San Franciscos im Jahr 2022 kann nicht funktionieren, wenn die Stadt nicht dazu übergeht, das Problem mit harter Hand anzugehen.