© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/22 / 08. April 2022

Ein Vorgeschmack auf künftige Monate
Gazprom Germania: Wie Wladimir Putin der deutschen Wirtschaft einen Streßtest beschert / Drohende Abschaltungen?
Paul Leonhard

Wladimir Putin muß derzeit nicht damit rechnen, daß die Nato direkt in seinen Ukraine-Krieg eingreift. Seine Drohung mit einem Atomschlag hat offenbar gewirkt und westliche Bellizisten leiser werden lassen. Der Wirtschaftskrieg zwischen Rußland und den westlichen Verbündeten eskaliert hingegen immer weiter: Vorige Woche kündigte der halbstaatliche russische Konzern PJSC Gazprom an, seine deutsche Tochterfirma Gazprom Germania GmbH an die Sankt Petersburger Gazprom Export Business Services (GPEBS) zu verkaufen, die wiederum dem unbekannte Unternehmen JSC Palmary gehört. Was nach einem gängigen Eigentümerwechsel in einer Marktwirtschaft aussieht, hat in Sanktionszeiten aber eine andere Dimension.

Denn die Gazprom Germania ist ein Berliner Unternehmen mit einem zweistelligen Milliarden­umsatz, das neben dem Gashandel in Europa auch riesige Erdgasspeicher in den niedersächsischen Gemeinden Etzel, Jemgum und Rehden, in Peissen bei Bernburg (Sachsen-Anhalt), in Haidach im Salzburger Land, Tumbaritz (Dambořice/Mähren), Bergermeer (Niederlande) und in Roggendorf (Szőlősudvarnok/Banatski Dvor) in der serbischen Vojvodina betreibt. Sprich: Die mitteleuropäischen Erdgasreserven standen zur Disposition. Daher aktivierte das Bundeswirtschaftsministerium das in der vergangen Legislaturperiode wegen China verschärfte Außenwirtschaftsgesetz.

Das schreibt vor, daß der Erwerb kritischer Infrastruktur durch Nicht-EU-Investoren genehmigungspflichtig ist. Daher werde die Bundesnetz­agentur bis zum 30. September als Treuhänderin eingesetzt, teilte Wirtschaftsminister Robert Habeck am Montag mit. Man werde die „kritische Infrastruktur nicht willkürlichen Entscheidungen im Kreml aussetzen“, so der Grünen-Politiker. Sprich: Gazprom Germania wird zwar nicht enteignet, aber unter deutsche Staatskontrolle gestellt. „Unser Ziel wird es sein, daß Gazprom Germania im Interesse Deutschlands und Europas geführt wird“, versprach Klaus Müller, Habecks Parteifreund und seit März neuer Präsident der Bundesnetzagentur.

Was, wenn aus der „Druschba“-Pipeline kein Erdöl mehr fließt?

Und Habecks juristischer Paukenschlag ist erst ein kleiner Vorgeschmack auf das, was die künftigen Monate bringen werden, wenn die Europäer weiterhin an der Sanktionsschraube drehen. Vorige Woche hat der Minister zudem die Frühwarnstufe des dreistufigen Notfallplans Gas ausgerufen, damit sich Unternehmen und Verbraucher schon einmal auf noch Schlimmeres einrichten können (siehe JF-Artikel auf Seite 22). Was das konkret bedeutet, verrät die Bundesregierung bislang nicht, man bleibt bei vagen juristischen Formulierungen. Doch was heißt das etwa für die mitteldeutsche Chemieregion mit ihren großen Standorten Leuna, Schkopau, Bitterfeld-Wolfen in Sachsen-Anhalt und Böhlen in Sachsen? Die brauchen nämlich nicht nur Gas für Prozeßwärme, sondern auch Erdöl aus der russischen „Druschba“-Pipeline. Von dort kommen nicht nur Kraftstoffe, sondern auch existentielle Chemikalien der Grundstoffindustrie. Es geht dabei um mehr als „Frieren für die Freiheit“, wie Altbundespräsident Joachim Gauck glaubt.

Die riesige Raffinerie PCK im brandenburgischen Schwedt an der Oder, die direkt an der „Druschba“-Pipeline hängt, gehört zu 54 Prozent dem russischen Rosneft-Konzern. Und von dort kommen nicht nur Benzin, Diesel, Heizöl und Schmierstoffe, sondern auch Kerosin. Rosneft ist zudem für die Betankung der Flugzeuge auf den Flughäfen Berlin, München, Nürnberg und Stuttgart zuständig. Rosneft gehört auch jeweils etwa ein Viertel der Mineralölraffinerie Oberrhein in Karlsruhe und der Bayernoil in Vohburg an der Donau. Im Bundeswirtschaftsministerium soll daher auch schon eine Staatskontrolle der Rosneft-Töchter und anderer russischer Unternehmen durchgespielt worden sein. Doch das würde wohl heftige Gegenreaktionen des Kremls provozieren: Deutsches Eigentum in Rußland wäre dann ebenfalls gefährdet.

Anderseits ist russisches Erdöl theoretisch leichter zu ersetzen als russisches Erdgas. Die deutschen Ölreserven reichen für mindestens drei Monate. Für viel Geld ließe sich Ersatz in Amerika, Afrika und bei den Arabern auftreiben – doch wo sollen die riesigen Mengen angelandet werden? Die Wirtschaftskraft Deutschlands wäre mit „einer auf Dauer um 0,2 Prozent geringeren Wirtschaftskraft vergleichsweise geringer betroffen“, hat Hendrik Mahlkow vom Kieler Institut für Weltwirtschaft in einer Modellrechnung ermittelt. Kommt es aber gleichzeitig zu einem Stopp russischer Gaslieferungen, dürften die Prognosen noch einmal nach unten korrigiert werden. Denn Erdgas wird beispielsweise für die Ammoniak-Herstellung (NH3) benötigt. Und das stechend riechende Giftgas ist Ausgangsstoff für Düngemittel oder Medizinprodukte.

Auch die Baustoff-, Ernährungs-, Glas-, Pharma-, Papier- und Stahlindustrie ist auf Gas zwingend angewiesen. Schon jetzt sind alle durch die hohen Strom- und Gaspreise schwer belastet. Nun kommt die Unsicherheit, ob sie künftig überhaupt noch mit Erdgas beliefert werden, wenn eine der beiden Konfliktparteien den Hahn zudreht. Wie sind die Prioritäten im Notfallplan der Bundesregierung genau geregelt? Welche Schmelzöfen erkalten dann zuerst? Keinesfalls egal dürfte es der deutschen Glasindustrie sein, warnt der Bundesverband Glasindustrie: Eine Komplettabschaltung würde bedeuten, daß die kontinuierlich zu betreibenden Glaswannen kaputtgingen, also ein irreversibler Anlageschaden mit Kosten von rund 50 Millionen Euro pro Anlage. Also die Schmelzöfen der Stahlindustrie abschalten, die für die Produktion von rund 40 Millionen Tonnen Stahl pro Jahr 2,1 Milliarden Kubikmeter Erdgas verbraucht, oder doch besser die deutsche Chemieindustrie stillegen?

Millionen Beschäftigten droht Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit

Letztere deckt 45 Prozent ihres Energiebedarfs direkt aus Erdgas. Aber auch der benötigte Strom wird zum Teil aus Gas hergestellt. BASF in Ludwigshafen gilt als größter Gasverbraucher der deutschen Industrie. Ohne eine ausreichende Gasversorgung müßten hier Hunderttausende Mitarbeiter und in der gesamten deutschen Wirtschaft möglicherweise Millionen Menschen auf „Kurzarbeit null“ gesetzt werden, warnt Christian Kullmann, Präsident des Chemieverbands VCI. Welche Branche ist systemrelevant und welche nicht? Es geht dabei um Millionen Arbeitsplätze. Die Bundesnetzagentur, die letztlich die Abschaltreihenfolge umsetzen müßte, arbeitet noch an Kriterien, auf deren Basis dann gegebenenfalls Einzelfallentscheidungen getroffen werden sollen. Noch nie seit Ende des Zweiten Weltkrieges sind die Achillesfersen der europäischen Volkswirtschaften so blank gelegen.

Hinzu kommt, daß ohne eine ausreichende Gasversorgung in Deutschland keine Feuerwehr, kein Bus und fast kein Polizeifahrzeug mehr rollt, weil es sich bei diesen zumeist um staatlich geförderte moderne Dieselfahrzeuge handelt, die Umweltschutzgründen inzwischen zusätzlich „AdBlue“ benötigen. Bei einem Gaslieferstopp könnten aber die Stickstoffwerke Piesterwitz (SKW), die als Deutschlands größter Harnstoffproduzent etwa 1,2 Milliarden Kubikmeter Erdgas benötigen, die Produktion nicht aufrechterhalten. Auch moderne Lieferfahrzeuge und Diesel-Pkw sind mit „AdBlue“-Systemen zur Abgasreinigung ausgerüstet.

Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) bemüht sich wie seine Amtskollegen in den anderen Bundesländern auch, die Unternehmer zu beruhigen: Erst wenn nach Frühwarn- und Alarmstufe auch die Notfallstufe ausgerufen ist, werde „der Staat tatsächlich in den Markt eingreifen“. Ein Satz, der schon deswegen nicht beruhigt, weil parallel dazu die Energieversorger bei den Unternehmen nachfragen und sich die Folgen im Produktionsprozeß erläutern lassen, sollte es zu anhaltenden Gaslieferstopps kommen.

Ein Szenario, das offiziell keiner so recht wahrhaben will, das aber unter Ökonomen heftig diskutiert wird: Kann sich das Industrieland Deutschland „ein Energieembargo leisten oder wären die wirtschaftlichen Folgen so hoch, daß die daraus folgende Krise nicht mehr handhabbar wäre“, fragt beispielsweise das Handelsblatt und konstatiert: „Verschiedene Studien der vergangenen Tage lassen dahingehend unterschiedliche Schlußfolgerungen zu.“ Nach Ansicht der „Wirtschaftsweisen“ könne es im laufenden Jahr zu einem Rückgang der Wirtschaftskraft von nur zwei Prozent kommen, würde der Extremfall eintreten, daß bloß ein Viertel des Ausfalls an russischem Gas kompensiert werden könnte.

Zwar werben die Wirtschaftsexperten nicht für „bewußtes Frieren“, fordern die Deutschen aber auf, weniger Energie zu verbrauchen. Sie sollten Fahrgemeinschaften bilden, langsamer fahren und wenn möglich den öffentlichen Nahverkehr nutzen, sagt die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer (LMU München). Der Handel hat dies bereits begriffen. So hat der Textildiscounter Kik, verkündet Firmenchef Patrick Zahn, bereits in allen Geschäften die Temperaturen gesenkt.

 www.bvglas.de

 www.rosneft.de

 www.bundesnetzagentur.de

Foto: Präsident Wladimir Putin bei der Eröffnung einer Erdölpipeline: Wer den Hahn aufdreht, kann ihn auch wieder schließen. Die deutschen Ölreserven reichen für drei Monate. Russisches Erdgas ist hingegen kurzfristig nicht zu ersetzen