© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/22 / 08. April 2022

Die Demokratie der Divergenten und Differenten
Kultur des Selbstzweifels
(dg)

Die Zukunft gehört der direkten Demokratie, behauptet der Freiburger Philosoph Andreas Urs Sommer. Multikulturelle Gesellschaften sind einfach zu „divers“ geworden, um an der traditionellen repräsentativen Demokratie noch festhalten zu können, die zu viele „gemeinsame Werte“ voraussetzt. Anstelle der klassischen Wertegemeinschaft trete daher eine „Herausforderungsgemeinschaft“, die auf situative Aufgaben situativ reagiere. Die Punktexistenzen der „Divergenten und Differenten“, so Sommers Illusion, fänden sich nur zu „Projekten“ zusammen, bei denen jeder und jede seine „Weltgestaltungspflicht“ erfülle. In dieser neoliberalen  „direkt-partizipatorischen Demokratie“ gehe es auch „radikal anti-identitär“ zu. Denn sie löse jüngst verfestigte „Empfindlichkeitsschutzräume“ und „Gruppenansprüche“ auf. Aber der größte Vorteil dezentraler Entscheidungsfindung wäre die Vertiefung und Popularisierung der abendländischen „Kultur des Selbstzweifels und der ständigen Selbstrevision“, an der alle mündigen Bürger zu beteiligen sind. Darin läge im Wettbewerb mit ungleich robusteren Konkurrenzkulturen wie der Chinas, der Selbstzweifel womöglich fremd seien, ein großes Versprechen der direkt-demokratischen Partizipation: „Europa ist jener Teil der Welt, wo jeder das Gemeinsame aktiv mitprägen darf.“ Ein notorisch selbstzweiflerischer Erdteil verwandle sich nach dieser Maxime in eine sich von der „Tyrannei der Mehrheit“ verabschiedende politische Kultur, die der „plattwalzenden Robustheit des während der Corona-Pandemie leider noch kopierten rigiden chinesischen Überwachungsregimes“ überlegen sein dürfte (Hohe Luft, 3/2022). 

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