© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/22 / 08. April 2022

Prekäre künstlerische Freiheit moderner Autoren
Stipendiaten ihrer selbst
(wm)

Die offizielle Erzählung der Kulturgeschichte vermittelt das Bild, daß mit dem Beginn der Neuzeit die Idee der freien Kunst und des autonomen Künstlers geboren wird. Was dieser „Mythos vom freien Autor“ gern unterschlägt, ist der Umstand, daß auch in der Moderne Künstler ihre Rechnungen bezahlen müssen. Darauf hat zuletzt Frank Berger in seinen 71 biographischen Skizzen über das Ein- und Auskommen von Dichtern in der Goethezeit aufmerksam gemacht (Wiesbaden 2020). Selbst berühmteste Autoren zwischen 1750 und 1850 konnten in den seltensten Fällen vom Schreiben leben. Die meisten erzielten ihren Hauptverdienst in „höheren Berufen“ oder zehrten von ererbtem Reichtum. Im Vergleich mit ihnen hat sich, wie der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen (Bonn) anhand jüngerer literatursoziologischer Untersuchungen zum Thema „Brotjobs & Literatur“ aufzeigt, die ökonomische Lage von Schriftstellern im digitalen Zeitalter eher noch verschlechtert. Wer seine Existenz allein aufs Schreiben gründen will und kein Bestseller-Fabrikant ist, verbringt einen beträchtlichen Teil seiner Zeit damit, Förderanträge zu stellen, um sich vom Staat alimentieren zu lassen. Viele Autoren hätten sich daher entschieden, dieser Scheinfreiheit zugunsten eines „Doppellebens“ zu entsagen. Anstatt vom Staat als Mäzen abhängig zu sein, ermöglichen sie sich durch Erwerbsarbeit eine echte, oft prekäre Form der Freiheit. Doch auch wer sich so zum „Stipendiaten seiner selbst“ mache, stehe in Gefahr, aus Angst vor der „Marktanpassung“ literarische Texte in vermeintlich „künstlerischer Freiheit“ zu produzieren, die keine „kommunikative Dienstleistung am Lesepublikum“ seien (Merkur 2/2022). 


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