© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/22 / 08. April 2022

Sehnsucht nach Geborgenheit
Dem Alltag entfliehen: Eine Fachzeitschrift widmet sich dem literarischen Mythos Schweiz und seiner frühen touristischen Vermarktung
Dirk Glaser

Je bedrohlicher die Welt im Großen erscheint, desto verbreiteter ist die Sehnsucht nach Geborgenheit im Kleinen. Zuletzt bot die Corona-Pandemie für diese historisch vielfach bestätigte Regel Anschauungsunterricht in Hülle und Fülle. In Erinnerung wird die panikartige Stadtflucht des New Yorker Geldadels bleiben, der sich im Frühjahr 2020 vor dem „chinesischen Virus“ (Donald Trump) in die relative Sicherheit der Provinz, in seine abgeschotteten Feriendomizile in Connecticut oder Maine zurückzog.

Doch schon lange vor Corona weckten Beschleunigungserfahrungen der globalisierten und mediatisierten Spätmoderne das in „Wirtschaftswunder“-Zeiten eingeschlafene Bedürfnis nach alternativen „Weltbeziehungen“, wie die Mainzer Literaturhistorikerin Barbara Thums das Phänomen in einem von ihr redigierten Schwerpunktheft „Idylle und Tourismus“ der Zeitschrift Sprache und Literatur (123/2021) nennt.

Kapitalistische Erschütterung überkommener Lebenswelten

Obwohl der Trend weltweit ungebrochen vom Land in die Stadt geht, gewinnt seit den 1970ern nicht nur in Deutschland eine in die Gegenrichtung weisende Bewegung an Zulauf, die das „Vollglück in der Beschränkung“ (Jean Paul) zu finden hofft. Sie befeuere auch jene „Idyllen-Begeisterung“, die sich an sechsstelligen Auflagenzahlen von Lifestyle-Magazinen wie Landlust ablesen lasse, deren „Entwürfe eskapistischer Rückzugsszenarien“ dem überforderten Subjekt einer beschleunigten Gesellschaft Auswege aus drohender Erschöpfung eröffnen wollen. Was sich in der grassierenden „Landliebe“ und der damit eingehenden neuen Wertschätzung von „Heimat“ als Kompensations- und Reflexionsmuster auf die fortschreitende kapitalistische Erschütterung überkommener Lebenswelten offenbare, sei jedoch keine allzu originelle Reaktion auf krisenhafte Umbrüche im Vertrauten.

Fluchten aus dem Alltag zu ermöglichen, ländliche Sehnsuchtsräume zu erschließen, Glück in der Ruhe und Schönheit der Natur zu erfahren, so lauteten doch bereits die Versprechen, mit denen der Züricher Dichter, Maler und Verleger Salomon Gessner (1730–1788) dem zivilisationskritischen literarischen Genre der Idylle europäischer Resonanz verschuf. Gessners „Idyllen“ (1756) lösten eine erste Reisewelle in die Schweizer Alpen aus und standen somit Pate bei der Entstehung des modernen Tourismus. Dieser Fremdenverkehr expandiert  seitdem in unterschiedlicher Gestalt, von den bürgerlichen „Sommerfrischen“ des 19. Jahrhunderts über den nach 1918 einsetzenden, ab 1933 staatlich organisierten („Kraft durch Freude“) bis hin zum heute total kommerzialisierten Massentourismus. 

Es ist nicht verwunderlich, daß der Begriff „Tourist“ um 1800 zuerst im Englischen auftaucht. England ist das Mutterland der Industrialisierung, der Naturausbeutung und Naturzerstörung. Angehörige der englischen Oberschicht, deren Unternehmungsgeist und Profitgier diesen Prozeß in Gang gesetzt hatten, stellten daher mit Konsequenz zunächst das größte Kontingent unter den Reisenden, die in der Schweiz zeitweilig dem von ihnen mit erschaffenen „stählernen Gehäuse“ rationaler Lebensführung  (Max Weber) und den damit verbundenen zahllosen Entzweiungserfahrungen zu entkommen versuchten. Die „arbeitende Klasse“ hingegen, die der entfremdenden Disziplinierung ihres Denkens, Fühlens und Handelns in weitaus brutalerer Form unterworfen war, konnte von Erholung in der Schweiz nicht einmal träumen.

Der „Mythos Schweiz“ erhielt, wie der Germanist Christian Schmitt (Oldenburg) ausführt, seine bis heute relevanten semantischen Konturen nicht nur als idyllisches Wunsch- und Gegenbild zur industriellen Moderne. Im Umfeld der Französischen Revolution prägen sich auch scharfe Konturen einer Schweiz als politisches Idyll eidgenössischer Freiheit aus. Friedrich Schillers Drama „Wilhelm Tell“ (1804) vereinte diese beiden Elemente des Mythos in exemplarischer, für das ganze 19. Jahrhundert wirkmächtiger Weise.  Johann Georg Kohl (1808–1878), einer der rührigsten Reiseschriftsteller seiner Zeit, bevorzugte in seinen im Revolutionsjahr 1848 abgefaßten, dreibändigen „Alpenreisen“ (1849/51) ein anderes Wahrnehmungs- und Beschreibungsmuster der politischen Schweiz. Nun manifestierte sich in ihren „Schöpfungen der Natur“ und den stabilen, agrarischen Lebensformen der Alpenbewohner das „Bleibende und Feste“, das die Unruhe europäischer Revolutionszentren überdauern werde.

Allerdings, so mußte Kohl einräumen, blieben dem Schweiz-Enthusiasten um 1840 herbe Enttäuschungen nicht erspart. Zwar verhielt sich nur die Natur weitgehend erwartungskonform, nicht deren Bewohner, weil es mit ihrer Zivilisationsferne nicht mehr weit her war. Als Folge der touristischen Erschließung hatte das „Gewinn- und Geldfieber“ sie ergriffen. In manchen Alpentälern, so entsetzte sich August Lewald („Das malerische Schweizerland“, 1838) herrsche „ein Leben, das an die Pariser Boulevards“ erinnere. Statt „ehrwürdiger Bauerntrachten“ trügen die Einheimischen französische Mode. Und um die Gesundheit der „edlen Wilden“ war es manchenorts ebenfalls schlecht bestellt. Jodmangel und die daraus resultierende Schilddrüsenunterfunktion ließen im Wallis und im Berner Oberland die „Giftpflanze des Cretinismus“ blühen.   

Umkehr zum sanften sozialverträglichen Tourismus

Es dauerte noch gut hundert Jahre, bis die Milliardenindustrie Tourismus die letzten Winkel der Erde, wie einst die Schweiz, als angeblich unberührte Oasen inmitten der „Monotonisierung der Welt“ (Stefan Zweig) vermarktet hatte. Eine Umkehr hin zum sanften, ökologischen und sozialverträglichen Tourismus, forderte 1980 der Zukunftsforscher Robert Jungk. Ein Appell, der unerhört blieb, weil, wie Jakob Christoph Heller (Halle) feststellt, bereits die Diagnose nicht stimmte. Richtig habe Jungk nur erkannt, daß die Zwänge kapitalistisch-moderner Lebensführung immer mehr Menschen dazu trieben, sich durch kurzfristige Flucht aus dem Alltag ins „eigentliche Leben“ zu retten. Um fern der Heimat „all inclusive“ in der gut geölten Organisationsmaschinerie internationaler Freizeit-Konzerne zu landen und von den Einheimischen als Eindringlinge oder gar „Kolonisatoren“ registriert zu werden. Soweit Jungk angesichts solcher Realitäten den „sanften Tourismus“ wieder als Anpassung an die zur Idylle verklärten „Kulturen“ der Zielregionen definiert, schließe er nahtlos an Konstruktionen der Landleben-Dichtung eines Salomon Gessner an. Doch lasse sich durch Respektierung des „landesüblichen Lebensstils“ oder durch „Takt, Lernfreude, Sprachkenntnis“ weder die Lebensform der Touristen noch die der Einheimischen wiederherstellen, da mit Beginn der Industrialisierung Mensch und Natur in allen „Idyllen“ dem Gesetz maximaler Nutzenmaximierung gehorchten.

Foto: Landschaftliche Idylle in den Alpen: Auswege aus drohender Erschöpfung suchen, Glück in der Ruhe und Schönheit der Natur erfahren