© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/22 / 08. April 2022

Dorn im Auge
Christian Dorn

Von Zorro lernen hieße siegen lernen, jedenfalls aus aktionskünstlerischer Perspektive. Hätten die unbekannten Aktivisten, die die zwei Weltkriegspanzer des Sowjetischen Ehrenmals nahe des Brandenburger Tores jeweils mit der ukrainischen Nationalflagge verhüllt hatten, ein „Z“ auf die Tanks gesprüht, wäre die Irritation perfekt gewesen: eine finale Zeitreise, in der Vergangenheit und Gegenwart ineinanderfließen. Dann fehlten nur noch die Menschenmassen von den aktuellen Demonstrationen, die die Sowjetischen Ehrenmale in Tiergarten und in Treptow stürmen, auf daß diese unseligen Marksteine sowjetischer Besatzung endlich getilgt werden. Meine eigene Vision beschränkt sich auf die Ver(s)dichtung: „Eine Vorstellung, die ich mag / Wladimir Putin – in Den Haag!“ 

Endlich gilt wieder: Gesicht zeigen! Die Polizei führt das bürgerlich gekleidete Paar mit Maulkorb ab.

Angst vor der Geschichte haben auch die selbsternannten Diskurswächter, allesamt erkennbar an ihren Gesichtsmasken, die – in Zeiten der Cancel Culture – zugleich metaphorisch für die Zucht der Maulkorb-Herrschaft stehen. Jeden Montag markieren diese Wächter des Corona-Maßnahmenstaates vor der Gethsemanekirche Präsenz, um die Revolutionskirche von 1989 vor der angeblichen „Vereinnahmung“ sogenannter „Querdenker“ zu schützen, die ja Anfang der neunziger Jahre noch eine begehrte Spezies des Feuilletons waren. So schnell ändern sich die Vorzeichen. Das gilt auch für die „180-Grad-Wende“ – es ist eben ein Unterschied, ob es Björn Höcke ist oder Annalena Baerbock. Neuerdings verkündet ein Banner über dem Eingangsportal völlig sinnfrei: „22 ist nicht 89“. Schließlich ist ja auch Hitler nicht identisch mit Stalin oder mit Mao oder mit Pol Pot. Doch was ist mit „1984“? Das wäre von 1989 ja nur einen Fünfjahrplan entfernt. Auf der Unterzeile des Banners steht dann noch der belehrende Satz: „Es gibt keine Corona-Diktatur“ – das ist nun wirklich Realsatire, stammt diese Botschaft doch von denen, die sich allein schon durch ihr Masken-Bekenntnis unter der Herrschaft des Corona-Kranzes versammeln, da die Heilsgewißheit der Dornenkrone augenscheinlich ausgedient hat. 


Endlich gilt wieder: Gesicht zeigen! Auf einem Spaziergang der Covid-19-Impfgegner, der auf dem Helmholtzplatz im Prenzlauer Berg endet, agiert die Polizei plötzlich wieder neutral und führt nicht mehr jene ab, die keine Maske tragen, sondern das bürgerlich gekleidete Paar mit Maulkorb, das Eier in Richtung Bühne geworfen hat. Derweil zitiert ein Transparent den Achtziger-Jahre-Hit: „Hurra, wir leben noch“, anspielend auf Karl Lauterbach, der unlängst plätscherte, Ungeimpfte seien bis März geimpft, genesen oder leider verstorben. Ein anderes Schild trägt die Botschaft: „Corona ist ein Intelligenztest. Wer durchfällt, wird geimpft.“ Das virale Video, das zur Demo am 7. April aufruft, zitiert die neuesten Zahlen der EMA-Datenbank zu den Covid-19-Impfungen: Schwerwiegende Nebenwirkungen 523.103, Todesfälle: 23.508. Schließlich sind wir im Krieg, sind doch – laut Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld – die instrumentalisierten Bilder von Bergamo vergleichbar mit der ikonographischen Botschaft vom Attentat in Sarajevo.