© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/22 / 08. April 2022

„Kaisawillim, das war ein guter Herr!“
Literatur: Der Familienroman „Dein ist das Reich“ der Missionarsenkelin Katharina Döbler beschwört den Zauber des deutschen Kolonialzeitalters
Dietmar Mehrens

Bismarck-Archipel, Kaiser-Wilhelms-Land, Neupommern ... Schon die Namen auf der Landkarte, die die Buchdeckelinnenseiten von „Dein ist das Reich“ ziert, lösen nostalgische Gefühle aus. Je länger das deutsche Kolonialzeitalter zurückliegt, um so größer scheint der Zauber zu sein, den es ausübt. Als das Comic-Magazin Zack des Springer-Verlags 1974 Hugo Pratts „Südseeballade“ veröffentlichte und somit ein großes jugendliches Publikum mit der kurzen Episode aus der Ära des Wilhelminismus konfrontierte, war die Zeit dafür offenbar noch nicht reif. Die Geschichte verschwand bald sang- und klanglos aus dem Heft.

Wesentlich größer war der Erfolg von Christian Krachts „Imperium“ (2012) über einen Kokosnuß-Extremisten namens August Engelhardt, der auf der Insel Kabakon ein Vegetarier-Imperium zu errichten hofft und schließlich an Skorbut erkrankt. Kracht hat Verweise auf das Werk von Pratt in dem Roman versteckt und der in seiner Kindheit verkannten Comic-Novela des Italieners somit eine späte Reverenz erwiesen. Neun Jahre nach „Imperium“ ist erneut ein großer Roman erschienen, der seine Leser in die wunderbare Welt der deutschen Südsee entführt.

Geschrieben hat ihn die Missionarsenkelin Katharina Döbler. Sie läßt einen unter der tropischen Hitze gleichsam mitschwitzen, weiß die Geräusche von Regenmassen, die aufs Dach trommeln, zu evozieren und hin und wieder auch Scham über blasierte Europäer, die sich selbst für die Krone der Schöpfung halten, die „wilden“ Ureinwohner der von ihnen übernommenen Überseegebiete hingegen für ein minderwertiges Nebenprodukt. Was indes für die wirtschaftlich an den Ressourcen des Archipels Interessierten der Neuguinea-Compagnie gegolten haben mag, trifft auf die Helden, die Döbler ins Zentrum ihres faszinierenden Romans gestellt hat, kaum zu. Schon der Titel „Dein ist das Reich“ weist die Richtung: Sie hat sich nach intensiven Recherchen in der eigenen Familie ihren vier Großeltern gewidmet, die allesamt christliche Missionare waren, entsandt von der pietistisch geprägten Neuendettelsauer Mission.

Die Lebenswege der vier Großeltern kreuzen sich

Ihre Hauptfiguren sind die „Nette“ genannte Großmutter Linette, deren Ehemann Johann Hensolt sowie Marie und Heiner Mohr, die Großeltern väterlicherseits.Vier Menschen, deren Lebenswege sich kreuzen werden, obwohl es anfangs ganz und gar nicht danach aussieht: Da sie im Ersten Weltkrieg zwei Brüder und ihren Auserwählten verloren hat, fängt die junge Nette nämlich erst mal in New York ganz neu an. Eigentlich will sie auch gar nicht heiraten, um sich eine Wiederauflage des erlittenen familiären Leids zu ersparen. Doch es kommt anders.

Johann Hensolt ist bereits vor dem Ersten Weltkrieg nach Deutsch-Neuguinea ausgereist und missioniert erfolgreich indigene Stämme auf einer Inselgruppe westlich von Neupommern. Er ist ein begnadeter Prediger und blendender Unterhalter. Die fremde Sprache hat er auch rasch gelernt. Doch der junge Mann ist im Glauben nicht gefestigt genug, um den sittlichen Standards der Missionsgesellschaft zur Gänze zu entsprechen und steht vor dem Aus, nachdem er mit einer „Wilden“ in buchstäblich wilder Ehe zusammengelebt hat.

Die von dem Missionar Martha Genannte hat ihn auf Malawaia von der Malaria kuriert und erwartet ein Kind von ihm. Aus dem Missionsdienst entlassen, treibt der gefallene Soldat Gottes sich nach dem Krieg drei Jahre lang in Rabaul, der Hauptstadt des einstigen Neupommern, herum. Erst 1922 wird er rehabilitiert und bekommt eine zweite Chance. Inzwischen kooperieren die Neuendettelsauer mit der Utrechter Mission. Hensolt wird nach Holländisch-Neuguinea versetzt (das heute zu Indonesien gehört). Bei einem Heimataufenthalt lernt er Mitte der Zwanziger Nette kennen, die seinem Charisma erliegt. 

Parallel dazu wird die Geschichte von Marie und Heiner Mohr erzählt, die einander schon vor Ausbruch des Krieges versprochen waren. Nach vierjähriger Trennung und einer Ausbildung als Hebamme ist Marie sich 1918 aber nicht mehr sicher, ob sie ihn noch will. Heiner ist ein spröder Pragmatiker, ein akribischer Fleißarbeiter, langmütig und etwas langweilig. Er verwaltet eine Kokospalmen-Plantage an der Ostküste von Kaiser-Wilhelms-Land und leistet so einen wichtigen Beitrag zur Finanzierung des Missionswerks. Marie muß sich ihre Flausen aus dem Kopf schlagen: Es wird ihr nicht gestattet, die Verlobung zugunsten eines anderen Bewerbers zu lösen.

Schließlich schifft sie sich als eine von sechs Missionsbräuten nach Neuguinea ein. Das deutsche Überseegebiet steht inzwischen zwar unter australischer Verwaltung; doch unter dem Dach der australischen Kirche dürfen die Missionare ihre Arbeit fortsetzen. Die Behörden sehen ein, daß die deutsche „Ordnung mit ihren Schulen und Betrieben [...] ungeheuer nützlich“ ist. Auch die Kolonisierten schätzen die Deutschen. Bei den Engländern wittern sie Ausbeuterei. „Kaisawillim, das war ein guter Herr“, ist Heiner Mohrs Zögling Baluna überzeugt. 

Beide Paare gründen kinderreiche Familien und leisten einen beträchtlichen Beitrag zur Entwicklung des Kolonialgebiets: Marie und Heiner in Heldsbach, Nette und Johann in Genyem, einer kleinen Siedlung auf einer Hochebene in der Nähe des Sentani-Sees. Johann führt weiterhin viele Papua zum Glauben an den dreieinigen Gott (der in ihrer Sprache Anutu heißt). Heiner erlebt als Kopra-Erzeuger das Auf und Ab der Weltwirtschaft. Getrennt von ihren Kindern, die inzwischen im nationalsozialistischen Deutschland die Schule besuchen, verrichten sie gewissenhaft ihren Dienst, bis schließlich der Zweite Weltkrieg ihr Lebenswerk in alle Himmelsrichtungen zersprengt. Die Männer geraten in Kriegsgefangenschaft. Nette, die 1924 bereits kurz vor der amerikanischen Staatsbürgerschaft stand, kommt erneut am weitesten herum: Sie landet in Shanghai. Sie ist auch diejenige, die das Unheil des Hitlerismus am klarsten gewittert hat: „Die Nazi verfolgen die Juden. Gott wird sie dafür strafen.“ Ihr Mann Johann hingegen ist – wie viele von der Neuendettelsauer Mission – der NS-Propaganda auf den Leim gegangen und sogar Parteimitglied geworden. Bei den Mohrs ist es Marie, die sich von dem großen Verführer verführen läßt. Doch zu einem Zerwürfnis weiten sich die politischen Meinungsverschiedenheiten in keiner der Familien aus.

Verdienste der christlichen Mission

Über einen Zeitraum von 35 Jahren folgt die Autorin ihren vier Hauptfiguren, macht dabei aber auch einige große Sprünge. Das episodenhafte Erzählen und die distanzierte Haltung, die die Erzählerin dabei einnimmt, verleihen dem Roman mitunter die Anmutung einer Chronik. Trotz ihrer charakterlichen Unterschiede wirken die Paare so austauschbar wie die Kulissen, vor denen sie agieren. Etwas mehr sinnliches Lokalkolorit hätte verhindert, daß der Leser im Hin und Her zwischen Heldsbach und Sentani-See die Orientierung verliert. Dieselbe Wirkung hat die blöde Mode, Anführungszeichen für wörtliche Rede wegzulassen, der auch Döbler leider verfallen ist.

Einige der anekdotenhaft referierten Ereignisse hätte man gern größer, detailreicher gemalt gesehen: die Konflikte und Verwerfungen, die zwei Kriegsausbrüche mit sich bringen, den Zumajang-Skandal – es geht um einen Eingeborenen, der wegen einer mutmaßlich sexuell motivierten Grenzüberschreitung schwer bestraft wird – oder das Drama um den selbstbewußten Konvertiten Pamai: Der mutiert zum gefährlichen Sektierer, schart in Windeseile Anhänger um sich, die das Evangelium befreiungstheologisch auffassen, und muß zur Abwehr einer Guerilla eliminiert werden.

Mag man die kapitelweise eingestreuten Bildbeschreibungen von Fotos aus dem Nachlaß noch als postmodernen Kunstgriff goutieren, die dem Roman das gewisse Etwas geben, wirken die selbstreferentiellen An- und Abmoderationstexte, in die die Erzählerin ihre Kapitel einbettet, auf die Dauer störend. Sie hemmen den Erzählfluß. Und sonderlich interessant sind sie auch nicht. Vermutlich erfüllen sie die Funktion einer literarischen Selbsttherapie: Die Erzählerin, 1957 in Franken geboren, die als Elfjährige Nettes Geschichten aus der Südsee hörte, später jedoch Atheistin, Anarchistin und Punkerin wurde, muß ja irgendwie damit klarkommen, daß ihr Werdegang die Lebensleistung der frommen Großeltern verhöhnt.   

„Den Rassismus und die Prüderie der Missionare verorteten wir selbstverständlich im selben Feindesland wie den Nationalsozialismus“, kommentiert Döbler ihre linke Sozialisation, ihr Abdriften in ein Milieu, das Religion mit Marx für „Opium des Volkes“ hält, das deutsche Selbstverständnis als stolze christliche Kulturnation unbedingt demolieren möchte und das auch geschafft hat. Aber steht das inzwischen verpönte Weltbild der naiv-frommen Großeltern wirklich auf der falschen Seite der Geschichte? Und ist es wirklich naiver als die Doktrin des Antikolonialismus?

Wie so oft widersprechen die Fakten dem Dogma. Die Autorin und Mitarbeiterin der Deutschen Ausgabe der internationalen Monatszeitung Le Monde diplomatique kommt in ihrem Buch an den Verdiensten der christlichen Mission nicht vorbei: Der reaktionäre Eurozentrismus verschaffte den Papua Bildung und medizinische Hilfe, und so ganz nebenbei wurde ihnen die Blutrache ausgetrieben. Die NSDAP-Mitgliedschaft von Johann und Marie erweist sich als viel zu leichtes Gegengewicht, da sie nicht zu groben Verstößen gegen die christliche Ethik führte. Auch ist nicht ganz klar, was die Verfasserin hinzugedichtet hat, um die Akteure von einst in das Welt- und Menschenbild von heute zu quetschen und so als bigott darstellen zu können. Hat die echte Marie wirklich ein Auge auf Zumajang geworfen, wie die Erzählerin insinuiert? Oder ist das frei erfunden, um die von ihr verachtete Hitler-Anhängerin in ein ungünstigeres Licht zu rücken, als es die Wahrheit täte?

Klar ist auf jeden Fall, daß eine ungebrochene und unkommentierte Darstellung der Lebensleistung ihrer Großeltern nicht in Frage kam. Ein solches Buch wäre von der Kritik als revisionistisch verrissen worden. Das große Missions-Epos aus einem Guß, das dieser Roman deshalb nicht werden durfte, wäre aber ohne Frage das mitreißendere Buch geworden.

Katharina Döbler: Dein ist das Reich. Roman. Claasen (Ullstein Buchverlage), Berlin 2021, gebunden, 480 Seiten, 24 Euro

Fotos: Lagune von Friedrich-Wilhelmshafen, Kaiser-Wilhelms-Land auf der Südsee-Insel Neuguinea, Schutzgebiet des Deutschen Reiches 1884–1914 (Foto um 1910): Die Autorin läßt ihre Leser unter der tropischen Hitze gleichsam mitschwitzen; Deutscher Kolonist mit zwei indigenen Einwohnern Neuguineas (Foto vor 1897): Scham über blasierte Europäer, die sich für die Krone der Schöpfung halten