© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/22 / 08. April 2022

Von politischem Gewicht
Großbritannien: Die Zeitschrift „The Spectator“ eilt von Rekord zu Rekord
Julian Schneider

Auch mit fast zweihundert Jahren auf dem Buckel wirkt The Spectator keineswegs alt, sondern erscheint jung, spritzig und erfolgreich. Es gibt im Vereinigten Königreich keine andere Zeitschrift, die mit konservativem Profil derartig kluge, frische Essays, Kolumnen und Analysen des Zeitgeschehens präsentiert. Das wird von einer wachsenden Leserschaft honoriert. Der seit 1828 erscheinende Spectator, die älteste bis heute erscheinende Wochenzeitschrift der Welt, eilt seit einigen Jahren von Auflagenrekord zu Auflagenrekord. Zuletzt hat das Magazin die Marke von 100.000 verkauften Exemplaren deutlich durchbrochen (davon schon ein Drittel E-Paper). Es ist ein Zuwachs um 85 Prozent gegenüber 2010, wie Chefredakteur und Herausgeber Fraser Nelson stolz vermeldete.

Es ist eine konservative Erfolgsgeschichte, die um so bemerkenswerter ist, da die Auflagen der Zeitschriften in Großbritannien insgesamt im selben Zeitraum um zwei Drittel geschrumpft sind. Zugleich erscheint der „Speccy“ – so der traditionelle Spitzname – politisch einflußreich und bestens vernetzt wie nie. Er steht den Tories und der Regierung von Boris Johnson nahe (man kennt sich: Johnson war selbst von 1999 bis 2005 Spectator-Chefredakteur), spart aber nicht, wenn er es für nötig hält, mit beißender Kritik am Kurs der Regierung. Das linke Pendant New Statesman, das Intellektuellenhausblatt der Labour-Partei, hat der Spectator weit überrundet und nun etwa eine dreimal so hohe Auflage erreicht.

Fraser Nelson beweist eine glückliche Hand in der Führung des Blattes, das wie Daily Telegraph und Sunday Telegraph zum Medienimperium der Barclay-Familie gehört. Die Verbindung ist hilfreich, denn Spectator-Autoren können auch im Telegraph schreiben. Den 47jährigen Schotten Nelson kann man als klassischen Liberal-Konservativen einordnen. Zwar hat das Magazin den Brexit unterstützt, er publizierte aber auch Plädoyers für eine offene Einwanderungspolitik und hat früh die Homo-Ehe akzeptiert. Gleichzeitig ist der Spectator eine Plattform für rechte Kolumnisten wie den witzigen Rod Liddle, der in satirischem Plauderton über Auswüchse des Gender-Irrsinns und des Woke-Wahnsinns lästert.

Liddle (der auch in der Sunday Times schreibt) ist für viele Linke eine Haßfigur: Homophob, misogyn, xenophob und sonst noch was nennen sie ihn. Als er neulich an der Universität Durham eine Dinnerspeech hielt, stürmten einige Studenten entrüstet aus dem Saal, es gab einen nationalen Skandal. Bekannt und beliebt im rechten, neokonservativen Spektrum ist der Spectator-Kolumnist Douglas Murray, dessen warnende Bücher über Immigration und Islamisierung (deutscher Titel: „Der Selbstmord Europas“) und über den zunehmend hysterischen Ton woker Debatten („Wahnsinn der Massen“) auch in Deutschland erfolgreich waren.

Das Magazin enthält meist lange, oft auch persönlich gehaltene Texte

Das Magazin enthält meist lange, oft auch persönlich gehaltene Texte. Ex-Premier David Cameron schrieb vorige Woche „Warum ich einen Laster nach Polen gefahren habe“ (über seine Erlebnisse auf einer Fahrt zur Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge), Liddle schrieb „Was ich im Sexualkundeunterricht gelernt habe“ (daß die Gender-Ideologie Quatsch ist) und Murray „Wie ich einmal fast RT gestürzt habe“. Charles Moore, der frühere Telegraph-Chefredakteur, ist ebenfalls ein wichtiger Kolumnist. Einen Skandal löste vor drei Jahren das „Lob der Wehrmacht“ aus, das der griechische rechte High-Society-Kolumnist Taki Theodoracopulos gewagt hatte. Ein reicher Rezensionsteil mit Buch-, Theater-, Opern- und Ausstellungskritiken rundet das überwiegend mit Karikaturen bebilderte Heft ab, das auf Fotos fast gänzlich verzichtet. Zusätzlich betreibt der Spectator eine vielfrequentierte Internetseite, deren politische Kommentare in Westminster Gewicht besitzen.

Als neuer Wettbewerber tritt The Critic auf, ein von Brexit-freundlichen Intellektuellen gegründetes Monatsmagazin für Politik und Kultur, das sich mit fein formulierten Essays der Cancel Culture entgegenstellt und die „Culture Wars“ beleuchtet. Die irre blonde Kunstfigur Titania McGrath (Andrew Doyle), eine ironische Heldin der Woke-Bewegung, hat hier eine feste Kolumne. Sie kämpft für „Soziale Gerechtigkeit“, gegen „Islamophobie“ und „Transphobie“. Ihr Motto: „Echte Diversität ist erst dann erreicht, wenn alle so denken wie ich.“ Die vom Konservativen Christopher Montgomery geleitete Zeitschrift erhielt ein wohl siebenstelliges Startkapital von dem Fondsmanager und Brexit-Unterstützter Jeremy Hosking, den die Sunday Times auf ihrer Reichenlisten mit 375 Millionen Pfund taxierte. Hosking, zugleich ein begeisterter Eisenbahnsammler, hat auch die Brexit-Partei von Nigel Farage mit großen Spenden unterstützt.

„The Critic“ beweist redaktionelle Unabhängigkeit

Das hielt The Critic nicht davon ab, in der März-Nummer eine ätzend formulierte Kritik an Nigel Farage, aufgehängt an seiner neuen Biographie, zu publizieren. An die zahllosen außerehelichen Liebschaften des Brexit-Parteimanns erinnernd, schrieb James Kirkup: „Vielleicht hat Farage das britische politische Establishment deshalb so erfolgreich gef…, weil er so viel Übung darin hatte.“ In jedem Fall beweist The Critic redaktionelle Unabhängigkeit von seinem Finanzier. In der Online-Ausgabe berichtete die Zeitschrift jüngst mit Sympathie von der National Conservatism-Konferenz in Brüssel, auf der Rechtskonservative aus West- und Osteuropa sowie Amerika, darunter auch JF-Autoren wie David Engels, Vorträge hielten. Die Zeitschrift (laut Eigenwerbung „Das Magazin für Leser ohne Vorurteile“) hat eine Auflage von knapp 20.000 erreicht.

Ein ähnliches Profil besitzt die Internetseite 

UnHerd.com, die Gegen-den-Strom-Schwimmen zur täglichen Geistesertüchtigung praktiziert. UnHerd will nicht mit der Herde blöken, der Titel spielt aber auch mit dem Anspruch, die ungehörten („unheard“) Stimmen zu publizieren, wobei dies Koketterie ist, denn ihre prominenten Autoren finden auch in Mainstreammedien Gehör. Die vom früheren Times-Kolumnisten Tim Montgomerie gegründete Seite hat sich als wichtiges Forum für nonkonforme, konservative und liberale Stimmen etabliert. Die Seite Spiked.com ist dagegen noch wilder. Einige ihrer Autoren wie Brendan O’Neill oder der Soziologe Frank Furedi kamen vor langer Zeit von einem marxistischen oder trotzkistischen Hintergrund, doch nun attackieren sie mit um so mehr Lust den linksliberalen woken Zeitgeist und die Cancel Culture von rechts. All diese Beispiele anspruchsvoller Medien beweisen, wie lebendig die nicht-linke britische Intellektuellenszene ist.

 www.spectator.co.uk

Foto: Cover der aktuellen Ausgabe der britischen, liberal-konser-vativen Zeitschrift vom  2. April: Pointiert die Fragen der Zeit anprechen