© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/22 / 08. April 2022

Der Krieg gegen die Ukraine und die Schwäche Mitteleuropas
Die deutsche Position
Karlheinz Weißmann

Im Hinblick auf ein Ende des Russisch-Ukrainischen Krieges geht es augenblicklich nur um Gedankenspiele. Eins beschäftigt sogar die Bundesregierung. Ihr schwebt für den Fall eines Kompromißfriedens vor, daß Rußland sich zurückzieht, die Ukraine im Gegenzug einen bündnisfreien Status akzeptiert und Deutschland als Garantiemacht dieser Neutralität auftritt. Was an dieser Vorstellung irritiert, ist das Maß der Selbstüberschätzung. Denn ein Land, das weder über eine einsatzfähige Armee noch über eine wehrwillige Bevölkerung, noch über eine Politische Klasse verfügt, die die Gesetze der Macht begreift, kann glaubwürdig keine so weitreichende Zusage abgeben. Selbst wenn das Milliardenprogramm für die Streitkräfte Wirkung zeigt und selbst wenn durch ein Wunder der Breitenpazifismus und die „German Angst“ verschwinden, bleibt immer noch das Problem, daß die Führung des Staates aus Männern und Frauen besteht, die unter den Bedingungen einer Schönwetterdemokratie nach oben gekommen sind und nicht die Fähigkeiten mitbringen, um eine historische Herausforderung zu bewältigen.

Historisch ist diese Herausforderung deshalb, weil sie sich lange angebahnt hat und aus Problemen resultiert, die ihre Wurzeln in der katastrophalen Geschichte des 20. Jahrhunderts haben. Gemeint ist das Scheitern aller Versuche einer konstruktiven Neuordnung des mitteleuropäischen Raums nach dem Zusammenbruch Deutschlands, Österreich-Ungarns und Rußlands zwischen 1917 und 1919. Die Siegermächte des Ersten wie des Zweiten Weltkriegs haben vor der Aufgabe versagt, eine dauerhafte Struktur zu schaffen; die Blockkonfrontation hat das Problem nur überlagert, nicht beseitigt.

Bezeichnend war im Frühjahr 1989 Moskaus Vorschlag an Washington für ein „neues Jalta“, um die Interessensphären neu gegeneinander abzugrenzen. Bezeichnend auch, daß die „einzige Weltmacht“ (Zbigniew Brzeziński) meinte, darauf nicht mehr eingehen zu müssen. Was folgte, war ein zähes Ringen um den Zugriff auf die Gebiete, die entweder zum Warschauer Pakt oder dem sowjetischen Randbereich gehört hatten. Der Westen schien dabei lange Zeit der Gewinner zu sein, was faktisch bedeutete, daß sich der amerikanische Einfluß bis an den Finnischen Meerbusen und über den Balkan hinaus auf große Teile der Schwarzmeerregion und in den asiatischen Süden des roten Imperiums ausweitete und das Territorium, wenn nicht auf dem Weg militärischer oder wirtschaftlicher Integration, dann doch mittels soft power durchdrungen wurde.

Diesen Prozeß nicht nur aufzuhalten, sondern umzukehren, ist die Agenda Putins, und der Angriff auf die Ukraine aus seiner Sicht ein logischer Schritt. Das festzustellen heißt nicht, das russische Vorgehen gutzuheißen. Wenn darauf ausdrücklich hingewiesen werden muß, dann, weil es in Deutschland zwischen sittlicher Entrüstung über den bösen Mann im Kreml und zynischem Kalkül kein Drittes zu geben scheint.

Auch das kein neues Problem. Schon im Vorfeld der Wiedervereinigung, als die dramatischen Abläufe des frühen 21. Jahrhunderts noch gar nicht abzusehen waren, brachte der Historiker Hans-Peter Schwarz die deutsche Schwäche auf die Formel „von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit“. Schwarz hielt nichts von Schuldgefühlen als ethischem Kompaß und nichts von dem Gedanken, in der Politik das Gegenteil dessen zu tun, was man in der Vergangenheit getan habe. Betrachte ein Staat ernsthaft die sentimentale Vorstellung einer konfliktfreien Welt, die sich den Regeln der Bergpredigt füge, als Maxime seiner Handlungen, „so würden unsentimentale Machtstaaten wieder einmal über sie hinweggehen und die wehrlosen Länder in die Hölle der guten Absichten stoßen. Dem Teufel der Macht ist nur mit Verstand und mit umsichtiger Härte beizukommen – wenn überhaupt.“

Schwarz hat diese Auffassung auch nach der „Wende“ bekräftigt und durfte sich bestätigt sehen durch die Stellungnahme seines Kollegen Arnulf Baring, der in einer Phase, in der die einen behaupteten, das „Vierte Reich“ stehe vor seiner Fleischwerdung, und die anderen ihren Kummer über das Ende des Sozialismus pflegten, zu der nüchternen Einschätzung kam, daß die Deutschen ihren Wohnsitz auf der „Insel der Seligen“ räumen müßten. Nur vorübergehend habe die Teilung den Glauben genährt, daß man der geopolitischen Zwangslage in der Mitte des Kontinents entkommen sei. Nun kehrten die Probleme wieder, mit denen sich schon Bismarck befassen mußte. Allerdings habe die Bundesrepublik keinen Mann seines Formats, nur Tonangeber, die unter „moralischem Größenwahn“ litten und dem Rest der Menschheit beibringen wollten, wie er zu leben habe.

Obwohl Schwarz wie Baring zu den Etablierten gehörten und ihre Thesen breit diskutiert wurden, fanden sie letztlich kein Gehör. Was weniger mit der Verstocktheit der Linken zu tun hatte, mehr mit der Weigerung der Bürgerlichen, liebgewordene Illusionen aufzugeben. So führte die Wiedervereinigung zwar gelegentlich zu dem zaghaften Bekenntnis, Deutschland sei nun ein „normaler Staat“ (Wolfgang Schäuble), aber von der Grundorientierung der Rheinbundrepublik – westliche Wertegemeinschaft, Schutzmacht USA – wollte man trotzdem nicht lassen. Was spätestens erkennbar wurde, als ein Bundespräsident – Richard von Weizsäcker – entsetzt abwehrte, als ein amerikanischer Präsident – George Bush – Deutschland, als gegebenem „Champion“ Europas, „Partnerschaft in der Führung“ anbot, und ein zweiter Bundespräsident – Horst Köhler – von seinem Amt zurücktrat, weil er mit der Äußerung, Deutschland müsse seine Interessen notfalls auch militärisch schützen, einen Skandal ausgelöst hatte.

Was folgte, waren immer neue und immer folgenlose Debatten über größere Verantwortung im Rahmen der Nato oder der Uno, fruchtlose Bemühungen um eine gemeinsame europäische Außen- und Verteidigungspolitik, ein plötzlicher Kriegsrausch (Jugoslawien beziehungsweise Serbien 1999), weil man glauben wollte, es gelte, ein „zweites Auschwitz“ zu verhindern, oder ein hilfloser Versuch, sich als Friedensmacht zu inszenieren (Irak 2003), die Verteidigung des Grundgesetzes am Hindukusch (Afghanistan 2001ff.) oder in Afrika (Mali 2013ff.), der Niedergang der Streitkräfte und eine groteske gesellschaftliche Entwicklung, die irgendwann mit der Machtübernahme der wokeness zu enden drohte.

Kein Ansatz einer Strategie, eines Entwurfs dessen, wie die Position Deutschlands in der Staatenwelt aussehen könnte, zeichnete sich ab. Und diese Feststellung gilt auch heute noch: Trotz ihres Bemühens um entschlossenes Auftreten ist von der gegenwärtigen Bundesregierung kaum etwas Durchgreifendes zu erwarten: bestenfalls Improvisationen, schlimmstenfalls „feministische Außenpolitik“. Was an der Dringlichkeit der sStandortbestimmung nichts ändert. Die schulden wir uns selbst, aber auch unseren Nachbarn, insbesondere jenen des „zwischeneuropäischen“ Raums, der sich von der deutschen Ostgrenze bis zur russischen Westgrenze dehnt.

Anders als die Deutschen haben die Völker Zwischeneuropas die Lehren der Geschichte beherzigt. Die gemeinsame Erinnerung ist Teil ihrer Identität. Sie bestimmt in hohem Maß das Selbstverständnis ihrer Nationen, weil sie klärt, wie es ihnen gestern ergangen ist und welche Erwartungen sie für morgen hegen dürfen. Aus der Sicht vor allem der Balten, Ungarn, Polen und Ukrainer ist der denkbar schlimmste Fall der Ausgleich der beiden Flügelmächte über ihre Köpfe hinweg. Wie mächtig dieses Trauma wirkt, hat man schon bei den Konflikten über Nord Stream 2, aber vor allem im Zug der Debatte über die deutsche Haltung nach dem Angriff Rußlands auf die Ukraine beobachten können. Wer dem neue Nahrung gibt, handelt unverantwortlich, so unverantwortlich wie der, der sich von seinen Ressentiments treiben läßt oder den Krieg immer weiter ideologisch auflädt, etwa in dem Sinn, hier gehe es darum, einen Regimewechsel zu erzwingen oder den Endsieg der westlichen Moderne gegen einen Hitler redivivus zu erfechten.

Es ist auch unwahrscheinlich, daß solche Interpretationen in den Augen des ukrainischen Volkes irgendeinen Sinn haben. Das steht in einem Kampf um seine Existenz. Zu welchem Ende, kann niemand sagen. Aber das dramatische Geschehen in Mariupol, Charkow und Kiew führt uns, wenn sonst nichts, vor Augen, was Zusammenfassung der nationalen Energie und Entschlossenheit bewirken. Der Selbstbehauptungswille der Ukrainer ist nicht nur bewundernswert, er ist eine Lektion: eine Lektion in Sachen unserer Dekadenz. Deren tiefste Ursache liegt in jener Willensschwäche, die über Jahrzehnte Niedergang und Zerfall geduldet hat: Masseneinwanderung, Negativ­auslese als Prinzip, soziale Atomisierung, Verwahrlosung, Abreißen der Überlieferung, Kollaps der inneren Sicherheit, bizarre öffentliche Ausgaben, immer neue, immer andere soziale Großversuche.

Um das eigentliche Problem zu korrigieren, genügt das Geständnis, „daß wir uns geirrt haben“ (Friedrich Merz), so wenig wie die Rückkehr zu alten Gewißheiten oder die verzweifelte Flucht nach vorn. Aber Klärung der deutschen – nicht der westlichen, nicht der amerikanischen, nicht der russischen, nicht einmal der ukrainischen – Interessen wäre immerhin der erste Schritt, der erste vor dem entscheidenden zweiten: der Nation wieder Stolz einzuflößen, jenen „unpersönlichen Stolz“ (Max Weber), ohne den die Gemeinschaft nicht leben kann. Das darf kein falscher Stolz sein, der in Kraftmeierei zum Ausdruck kommt, die der Bierdunst oder das digitale Geschwätz nähren, und kein billiger Stolz angesichts barmherziger Taten, die uns nichts kosten als den Druck auf den Paypal-Button. Es muß ein echter Stolz sein, den nähren könnte, daß Deutschland endlich seine historische Aufgabe versteht, in der Mitte des Kontinents ein organisierendes Zentrum zu bilden und der Lähmung Europas ein Ende zu machen.






Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Historiker, Publizist und Buchautor. Er arbeitete von 1982 bis 2020 im Höheren Schuldienst des Landes Nieder­sachsen. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Realpolitik („Fordert das Mögliche!“, JF 24/21).

Foto: Unser Haus gründlich renovieren: Es ist dringend notwendig, der Nation wieder Stolz einzuflößen, jenen „unpersönlichen Stolz“ (Max Weber), ohne den die Gemeinschaft nicht leben kann