© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/22 / 08. April 2022

Blackout in der Chemiebranche
Die dritte Stufe des Notfallplans Gas würde die gesamte deutsche Industrie ins Mark treffen
Marc Schmidt

Am 8. März verkündete Joe Biden einen Importstopp für russisches Öl. Dabei äußerte der US-Präsident aber Verständnis dafür, daß viele europäische „Verbündete und Partner möglicherweise nicht in der Lage sind, sich uns anzuschließen“. Acht Tage später zog sein litauischer Amtskollege Gitanas Nausėda dennoch nach: Dies würde zwar „einige Probleme schaffen, aber diese Probleme wären nicht kritisch“, erklärte der 57jährige Ökonomieprofessor der BBC. „Auf eine solche Kürzung russischer Energieressourcen sind wir besser vorbereitet als viele andere Länder in der EU.“ Denn bereits seit 2014 gibt es in der Ostsee-Hafenstadt Memel (Klaipėda) das schwimmende Terminal „Independence“ zur Anlandung von tiefgekühltem Flüssigerdgas (LNG) aus Norwegen, den Nordamerika oder den arabischen Ländern.

„Seit dem 1. April fließt kein russisches Erdgas mehr nach Lettland, Estland und Litauen“, erklärte Uldis Bariss, Chef der Erdgasspeicherfirma Conexus Baltic Grid, am Wochenende dem lettischen Radio. Und der riesige unterirdische Gasspeicher in Hinzenberg (Inčukalns) östlich von Riga ist durch Pipelines mit Abnehmern in Litauen, Estland und Finnland verbunden. „Wenn wir es können, kann es der Rest Europas auch“, ergänzte Nausėda via Twitter. Und wenn es allein um die Stromerzeugung geht, scheint Deutschland dem baltischen Beispiel folgen zu können: Nur 10,5 Prozent des Stroms (51,1 Terawattstunden/TWh) wurden 2021 aus Gas erzeugt. Steinkohle, die zur Hälfte aus Rußland kam, hatte einen Anteil von 9,5 Prozent (46,4 TWh).

Beim gesamten Energiemix, der auch Heizung, Industrie und Verkehr berücksichtigt, sieht es hingegen völlig anders aus: Hier dominieren Mineralöl (31,8 Prozent) und Erdgas (26,6 Prozent). Und Öl läßt sich durch Supertanker und mit viel Geld weltweit beschaffen – die LNG-Kapazitäten sind hingegen kurzfristig stark limitiert. Ein deutsches LNG-Terminal gibt es nicht, denn „Fossile Energieinfrastrukturen sind nicht zukunftsfähig. Neben CO2 aus der Verbrennung ist auch Methan ein in der Atmosphäre extrem klimaschädigendes Gas“, warnen die Grünen in ihrem aktuellen Landtagswahlprogramm. „Schleswig-Holstein braucht kein LNG-Terminal“, denn „Alternativen sind vorhanden: Neben der Elektrifizierung sind hier Wasserstoff und Ammoniak zu nennen“.

Robert Habeck, von 2012 bis 2018 Umweltminister in Kiel, sieht das als Bundeswirtschaftsminister inzwischen anders als seine Parteifreunde in seiner Heimat: Am 30. März rief er die Frühwarnstufe des Notfallplans Gas aus. Aktuell gebe es zwar keine Versorgungsengpässe, „dennoch müssen wir die Vorsorgemaßnahmen erhöhen, um für den Fall einer Eskalation seitens Rußlands gewappnet zu sein“, erklärte der Grünen-Politiker.

Der deutsche Notfallplan Gas wurde erstmals im Jahr 2012 unter Federführung des damals von FDP-Chef Philipp Rösler geführten Wirtschaftsministeriums veröffentlicht. Die aktuelle Fassung aus dem Jahr 2019 beinhaltet die Frühwarnstufe, die Alarmstufe und die Notfallstufe. Der Notfallplan regelt in allen drei Stufen die Rechte und Pflichten der Behörden, der Gasunternehmer und der Gasnetzbetreiber. In den ersten beiden Stufen stehen den Firmen marktbasierte Maßnahmen zur Verfügung, bei Auslösung der dritten Stufe greift der Staat in Form von Rationierungen und Versorgungsstopps ein.

„95 Prozent aller Industriegüter benötigen heute Chemieprodukte“

Die Marktmaßnahmen im Vorfeld beziehen sich auf die Verfügungsrechte über Netze, Speicher und Gasreserven. In allen Stufen verfolgt der Notfallplan das Ziel, „geschützte“ Kunden möglichst lang über Importe, Substitute und im Notfall aus den Gasspeicherreserven zu versorgen. „Geschützt“ sind demnach Privathaushalte, soziale Einrichtungen und Fernwärmeerzeuger. Sie werden also zuletzt abgeschaltet. Sprich: Gaskraftwerke und Industriebetriebe, die Gas für Prozesse, Wärme und Stromproduktion benötigen, werden zuerst nicht mehr beliefert werden.

Ein Importstopp für russisches Gas oder ein von Präsident Wladimir Putin angeordneter Lieferstopp löst aber nicht automatisch und sofort die dritte Planstufe mit Rationierungen und Abschaltungen aus, es gibt noch Notreserven. Allerdings sind die gewerblichen Abnehmer verpflichtet, Vorbereitungen auf eine mögliche Versorgungsunterbrechung bereits während der vorangegangenen Phasen des Plans zu treffen. Kommt es zu einer Abschaltung wegen stark sinkender Reserven in den Speichern, bedeutet dies aber ein weitgehendes Ende der innerdeutschen Produktion der Grundstoffindustrie, der chemischen Industrie und anderer Industriezweige, etwa der Glasindustrie.

Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) hat die dramatischen Folgen aufgelistet: „Etwa 95 Prozent aller Industrieerzeugnisse benötigen heute in Deutschland in ihrem Entstehungsprozeß Chemieprodukte, vom Auto über Computerchips, von Dämmmaterialien bis hin zum Fernseher – von Medikamenten und Produkten für das tägliche Leben wie etwa Wasch- und Reinigungsmittel ganz abgesehen.“ Und das sind nur die Nebenwirkungen: „Anlagen der Chemie- und Pharmabranche kann man nicht beliebig aus- und wieder anschalten“, warnte VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup. Wer die Energie- und Rohstoffversorgung „kurzfristig abschaltet, lähmt auch die gesamte Industrieproduktion am Wirtschaftsstandort Deutschland. Die sozialen und ökonomischen Konsequenzen wären gewaltig“.

Die Etablierung alternativer Prozesse durch Produktionsänderung oder Substituierung würde deutlich länger dauern als die voraussichtliche Dauer der Kampfhandlungen. Und bereits während des Chemie-Blackouts ändern sich die globalen Lieferketten – ausländische Kunden deutscher Firmen orientieren sich um, während die inländischen Lieferketten in weiten Teilen zusammenbrechen. Der Gaspreis würde explodieren. Auch alle für alternative Prozesse und die Energieproduktion erforderlichen Rohstoffe, etwa Kohle und Erdöl, würden sich massiv verteuern – wenn sie kurzfristig überhaupt lieferbar wären.

Diverse ökonomische Prognosen beziffern den Schaden eines Energiembargos oder russischen Lieferstopps auf 2,5 bis sechs Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 3,57 Billionen Euro (2021). Doch in diesen theoretischen Berechnungen sind die Folgeeffekte durch galoppierende Inflation, für die Sozialsysteme und für die Volkswirtschaft durch die zu erwartenden Produktionsverlagerungen nur unzureichend berücksichtigt.

Vor diesem Hintergrund erinnert nicht nur die aktuelle öffentliche Diskussion, sondern auch die Arbeit mit dem Notfallplan Gas an die in den Folgen alptraumhaften Planungen wirtschaftlicher und militärischer Auseinandersetzungen während des Kalten Krieges. Sobald der Notfall Gas in der dritten Stufe zum Einsatz kommt, sind die Deutschen Einwohner eines wirtschaftlich zerstörten Drittweltlands – mit beheizten Wohnungen, warmen Wasser und einem guten Gewissen.

Aktueller Notfallplan Gas für Deutschland: bmwi.de

Foto. Russische Gas-Meßstation Sudscha (Kreis Kursk) an der Grenze zur Ukraine: Konflikte sind nicht neu