© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/22 / 08. April 2022

Der Flaneur
Die Tochter zieht aus
Tobias Dahlbrügge

Wenn die Kinder groß sind und flügge werden, sollte man schon vorsorglich mal den Werkzeugkasten aus dem Keller holen und auf Vollständigkeit prüfen. Die Tochter verkündet mit großer Geste, daß sie die Zumutungen des elterlichen Heims nicht länger zu ertragen und auszuziehen gedenkt. Es hat sich überraschend eine Wohnung aufgetan, und das bei dem angespannten Immobilienmarkt.

 Wir haben gemischte Gefühle: Einmal muß es ja ohnehin so kommen, und außerdem ist es mit der Zeit wirklich anstrengend, mit 19jährigen zusammenzuleben. Trotzdem stellt sich schnell der Abschiedsschmerz ein, auch wenn die neue Bleibe nur ein Stadtviertel weiter ist. Die erste Besichtigung ist erstaunlich positiv, meine erste eigene Hütte war jedenfalls weit weniger gut ausgestattet.

Es ist schon mehr als  verblüffend, wie sehr man durch jeden Umzug handwerklich dazulernt. 

Obwohl das junge Fräulein betont, wie unabhängig sie nun auf eigenen Füßen steht und sehr gut alleine ohne uns klarkommt, darf Papa den Handwerker & Hausmeister spielen: Das heißt streichen, dübeln, schrauben, kleistern, anklemmen – und viel fluchen. 

Derweil steht der oberschlaue Sohnemann daneben und gibt fachmännische Tips aus seinen Youtube-Lifehacks aus dem Smartphone. Wenigstens einen Aufzug hat das Haus, das erleichtert den Umzug wesentlich.

Es ist verblüffend, wie sehr man durch jeden Umzug handwerklich dazulernt. Das Tapezieren und Streichen geht nach dem x-ten Mal schon richtig routiniert von der Hand. Doch der alte Ikea-Kleiderschrank (war der nicht schon gebraucht gekauft?) erweist sich als echter Gegner. 

Einmal auseinandergebaut, weigert er sich hartnäckig, sich wieder zusammenfügen zu lassen. Hä? Wo gehört denn diese Schraube hin, saß die oben oder unten? „Du hättest vorher Handyfotos machen sollen“, belehrt mich der Kurze. Zu ärgerlich, daß er auch noch recht hat.

Am nächsten Tag, nach der ersten Nacht im neuen Heim, erfolgt der erste Notruf: „Das heiße Wasser in der Küche geht nicht.“ Papa kommt. Der Hahn unter der Spüle war nicht aufgedreht. Willkommen in der Selbständigkeit.