© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/22 / 15. April 2022

Sie wollen nicht aufgeben
Corona: Der Bundestag lehnt die Impfpflicht ab / Eine Rückkehr der Debatte ist jedoch nicht ausgeschlossen
Michael Paulwitz

Die Vernunft hat einen Etappensieg im Deutschen Bundestag errungen. In einem denkwürdigen Abstimmungsmarathon hat keiner der Anträge, mit denen Gruppen von Abgeordneten willkürlich ausgewürfelte Teile der Bevölkerung einem erpresserischen Zwang zur Impfung gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 unterwerfen wollten, eine Mehrheit erhalten. 

Eine Sternstunde des Parlamentarismus war es indes nicht. Bei aller berechtigten Genugtuung der nach Hunderttausenden zählenden unbequemen „Spaziergänger“, die durch ihren beharrlichen Protest und Widerstand fraglos den Ausschlag für die gefallene Entscheidung gegeben haben, bleibt der zurückgelassene ethische Flurschaden doch beträchtlich.

Ein substantieller Teil der Volksvertreter war bereit, sich über alle sittlichen, rechtlichen, medizinischen Bedenken hinwegzusetzen, um die rote Linie eines weitreichenden und pauschalen Grundrechtseingriffs zu überschreiten. Schon die Tatsache, daß überhaupt ein Gesetzentwurf formuliert und eingebracht werden konnte, der das zentrale Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit mit einem einfachgesetzlichen Federstrich dem Belieben der Exekutive ausliefern würde, läßt anhaltendes Unbehagen zurück.

Wie auf dem Basar hatten die Impfpflicht-Verfechter zuvor gefeilscht, ob alle Erwachsenen, nur die über 50jährigen, oder doch die über 60jährigen – und alle anderen irgendwann später – zu einem lediglich bedingt zugelassenen mRNA-Impfstoff genötigt werden sollten, der weder vor Ansteckung noch vollständig vor schweren Krankheitsverläufen schützt. Für die „Gesichtswahrung“ von Politikern, die sich ideologisch verrannt haben, ist das ein hoher Preis. Zudem erhielten die beiden Anträge der AfD und einiger Abgeordneter um FDP-Vize Wolfgang Kubicki, die eine Impfpflicht grundsätzlich ablehnen, eine klare Abfuhr. Das Thema ist also noch nicht vom Tisch.

Von einer Rückkehr zur Normalität, wie sie die überwiegende Mehrzahl unserer Nachbarstaaten anstrebt, ist die immer noch wichtigste Volkswirtschaft Europas daher weit entfernt. Auf dem aberwitzigen Sonderweg in der Corona-Politik, der eine breite Spur der finanziellen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verwüstung durch das Land gezogen hat, bedeutet das von den Fraktionen freigegebene Votum der Bundestagsabgeordneten lediglich eine Verschnaufpause.

In der Erleichterung über das vorläufige Scheitern einer fraglos verfassungswidrigen allgemeinen Impfpflicht wird gern übersehen, daß die nicht minder problematische einrichtungsbezogene Impfpflicht für Beschäftigte im Gesundheits- und Pflegewesen nach wie vor in Kraft ist. Während jene wenigen europäischen Staaten, die damit experimentiert hatten, sich längst wieder eilig aus dieser Sackgasse zurückziehen, sind es hierzulande nur einzelne Stimmen, die dazu aufrufen.

Dabei ist es – neben anachronistischen „Quarantäne“-Vorschriften, die auch gesunde, aber zufällig „positiv“ getestete Menschen wochenlang von ihrem Arbeitsplatz fernhalten – gerade die bevormundende Impfpflicht, die Fachkräfte in Scharen vertreibt und dadurch für anhaltende Personalengpässe im medizinischen Sektor verantwortlich ist. 

Insgesamt fast 82.000 Ungeimpfte aus medizinischen Berufen wurden bislang den Gesundheitsämtern in zehn Bundesländern gemeldet. Von einer außergewöhnlichen Belastung der Krankenhäuser durch schwer an Covid-19 Erkrankte kann dagegen keine Rede sein, wenn es eine solche Überlastung denn je gab. Die Rate der Atemwegsinfektionen bei Kindern und Erwachsenen liegt aktuell „im Bereich der Werte der vorpandemischen Jahre“, muß selbst RKI-Chef Lothar Wieler öffentlich zugeben. 

Das hindert den erratischen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und insbesondere die hartgesottenen Anhänger einer autoritären „Null-Covid“-Politik nach chinesischem Vorbild nicht daran, die zur Heilslehre hochstilisierte Impfpflicht trotz der soeben eingefahrenen derben Niederlage mit sektiererischem Eifer weiterzuverfolgen. 

Die Tonlage erinnert an den Fanatismus von Glaubenskriegern. Jung-Grüne ergehen sich in Weltuntergangsklagen, ein SPD-Abgeordneter sieht im Beifall der von der präsidierenden Genossin miesepetrig zurechtgewiesenen AfD-Kollegen für das Scheitern des Impfpflicht-Gruppenantrags das „Jubeln“ von „Faschisten“. Lauterbach und seine Gefolgschaft ergehen sich bereits in Rachephantasien für den Abstimmungs-Mißerfolg, drohen mit der Wiederkehr der Maskenpflicht und neuen „Lockdown“-Strafen im Herbst.

Daß Lauterbach sich an die Impfpflicht klammert, ist nachvollziehbar. Eine beispiellose Serie von Fehlleistungen, Unwahrheiten und grotesken Selbstwidersprüchen macht ihn kaum vier Monate im Amt nach Anne Spiegel (Grüne) zum nächsten Rücktritts- oder Entlassungskandidaten des an Fehlbesetzungen nicht armen Ampel-Kabinetts.

Zudem hat er eine absurde Überbestellung von zig Millionen Impfdosen zu verantworten, von denen ein beträchtlicher Teil schon bald mit Milliardenschaden zu verfallen droht. Lauterbachs Stützungsprogramm für den Kurs der Aktie des Impfstoffherstellers Biontech, mit dem die Bundesregierung Liefervereinbarungen über Jahre hinaus geschlossen hat, wird den Steuerzahler noch teuer zu stehen kommen. Bis Ende Juni werden immerhin mehr als zehn Millionen Dosen ihr Verfallsdatum erreichen.

Auch nach zwei Jahren Pandemie-Politik fehlt weiter jede objektive Datengrundlage. Statt evidenz- und faktenfrei von neuen und noch gefährlicheren „Wellen“ zu orakeln, wäre eine kritische Gesamtbewertung der weitgehend auf Stimmungen, Gefühltem und Spekulationen gebauten Maßnahmen-, Masken- und Impf-Politik überfällig. 

Auch Bundeskanzler Scholz müßte nach den Regeln politischer Redlichkeit jetzt die Vertrauensfrage stellen, hat er doch die Impfpflicht selbst zu seinem Projekt erklärt und damit den dreistesten Bruch eines Wahlversprechens der neueren deutschen Parteiengeschichte zu verantworten. Seine Ansage, es werde keinen neuen Anlauf dafür geben, ist vor diesem Hintergrund wenig glaubwürdig.

Der Druck für einen solchen politischen Kassensturz ist noch immer nicht groß genug. Zugleich steuert Deutschland durch die Fehlsteuerungen der letzten Jahrzehnte angesichts von Ukraine-Krieg, Energiekrise und neuen Migrationsströmen in einen umfassenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Niedergang, der eine Neuauflage der Impfpflicht-Debatte in der zweiten Jahreshälfte als Randproblem erscheinen lassen könnte. Eine ermutigende Aussicht ist das nicht.