© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/22 / 15. April 2022

„Keine Exzesse, sondern Strategie“
Ukraine: Wie konnte es zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen solchen Ausmaßes kommen? Liegen sie tatsächlich in der sowjetischen Tradition der russischen Armee begründet, wie der Publizist Dmitrij Chmelnizki erklärt?
Moritz Schwarz

Herr Dr. Chmelnizki, haben Sie die Kriegsverbrechen in der Ukraine überrascht?

Dmitrij Chmelnizki: Als Mensch, der gehofft hatte, daß zumindest in Europa so etwas heute nicht mehr passieren könne, ja. Als Historiker dagegen wundern sie mich überhaupt nicht, denn das liegt leider in der Tradition der sowjetischen Armee.

Inwiefern?

Chmelnizki: Deren Kriegsführung war immer wieder von unfaßbarer Härte nicht nur gegen den Feind, sondern auch die Zivilbevölkerung geprägt  – woran man sich im Westen in der Zeit nach 1945 zunächst auch noch gut erinnerte. Doch schon während des Kalten Krieges begann sich die Sicht auf die Rote Armee zu wandeln. Heute wird sie im Westen überwiegend als Befreier gesehen. Tatsächlich aber war sie genauso wie die Wehrmacht Eroberer und Unterdrücker. Kriegsverbrechen waren dabei keine Ausnahme oder „dunkles Kapitel“ – sondern vielmehr Strategie.

Aber in der Ukraine haben wir es nicht mehr mit der Roten Armee, sondern mit den 1992 gegründeten „Streitkräften der Russischen Föderation“ zu tun. Gab es da keinen Bruch?

Chmelnizki: Nein, das anzunehmen ist ein Irrtum, der im Westen gern gemacht wurde. Und ein treffendes Symbol für die Kontinutät mit der Roten Armee, beziehungsweise der „Sowjetarmee“, wie sie 1946 umbenannt wurde, ist, daß deren Hoheitsabzeichen, der Rote Stern, auch das Hoheitsabzeichen der Armee der Russischen Föderation ist.

Ein Stern macht noch keine Kontinuität.

Chmelnizki: Natürlich nicht, ich sagte nur, daß er diese symbolisiert. Um die Kontinuität zu verstehen, muß man den Ursprung der Roten Armee kennen, die 1918 nicht zur „Verteidigung der Arbeiter- und Bauernmacht“ gegründet wurde, wie es die Propaganda immer behauptet hat, sondern als Instrument für die aggressiven Absichten der Kommunistischen Partei: Ziel war dabei nicht nur die Vernichtung der Feinde der Bolschewiki, sondern auch die Eroberung der umliegenden Länder. Dazu wiederum muß man wissen, daß nicht nur Weißrußland, die Ukraine oder die baltischen Staaten, sondern – was sich viele heute kaum noch vorstellen können – auch Polen oder Finnland bis 1918 Teil des Zarenreiches gewesen waren. Deren Unabhängigkeit infolge der russischen Niederlage im Ersten Weltkrieg kümmerte die russischen Kommunisten allerdings kaum. Die hofften vielmehr, diese Länder bei nächster Gelegenheit wieder erobern zu können. Und Menschen- und Kriegsrecht haben die Bolschwiki dabei nie interessiert.

Menschen- und Kriegsrecht wurde allerdings nicht nur von Sowjetrußland, sondern von fast allen Staaten vielfach mißachtet und gebrochen. 

Chmelnizki: Das stimmt, und die New York Times hat ja ein Video verifiziert, das die Erschießung eines schwerverwundeten russischen Kriegsgefangenen durch Ukrainer Ende März bei Dmytrivka zeigen soll. Von den meisten westlichen Staaten wurden Menschen- und Kriegsrecht jedoch wenigstens als moralischer Richtwert akzeptiert. Für die Sowjets dagegen war humanitäres Kriegsrechts nichts Moralisches, sondern als in ihren Augen bürgerliches Regelwerk ebenso verachtenswert wie irrelevant. Sie hatten ihre eigene Moral und die lautete, daß alles gut war, was der Sowjetunion diente. Die westlichen Armeen, auch die deutsche Wehrmacht, waren anders organisiert als die Rote Armee, Soldaten und Offiziere anders erzogen. Dort waren Verzicht auf Plünderung und Vergewaltigung auch eine Frage der militärischen Disziplin. In der Roten Armee dagegen existierte der Begriff „Kriegsverbrechen“ gar nicht. Und er existiert in der Armee der Russischen Föderation immer noch nicht. Weder Soldaten noch Offiziere oder Generäle verstehen die Bedeutung dieses Begriffes. Er gehört nicht zu ihrem Vokabular. So etwas haben sie in der Militärschule nicht gelernt. Putin selbst sicher auch nicht. 

Sondern?

Chmelnizki: In der Roten Armee galten nicht etwa Raub und Vergewaltigung als Verbrechen, sondern zum Beispiel in Kriegsgefangenschaft zu geraten. Ursprünglich wollte Stalin auch alle Rotarmisten, die es gewagt hatten, in Gefangenschaft zu gehen, nach ihrer Befreiung erschießen lassen. Später verzichtete er jedoch darauf, weil er sie für den Wiederaufbau der Sowjetunion brauchte. Die Soldaten der Roten Armee wußten, daß sie wegen eines Witzes über Stalin erschossen werden konnten – daß sie aber bei Vergewaltigung und Ermordung von Zivilisten straffrei bleiben würden. Und bei ihren Exzessen handelte es sich oft gar nicht nur einfach um Vergewaltigungen, sondern um Greueltaten der schlimmsten Art: Betroffen waren sogar Kinder und Greisinnen, Frauen wurden zu Tode vergewaltigt, nicht selten von ganzen Horden, manche wurden währendessen gefoltert und verstümmelt oder danach ermordet. Vielfach mußten die eigenen Kinder, Väter, Ehemänner dabei zusehen, und wer versuchte, gegen das Unerträgliche einzuschreiten, wurde oft einfach erschossen.

Aber waren die Exzesse der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg nicht nur Rache-Reaktionen auf Untaten von deutscher Seite? Wieso erlebt nun aber auch die Ukraine Massaker, Vergewaltigungen und Folterungen?

Chmelnizki: Eben, das zeigt, wie absurd, zynisch und unmoralisch die Argumentationsweise, die Sowjetverbrechen seien lediglich Reaktionen gewesen, schon immer war. Tatsächlich dienten Plünderung und Vergewaltigungen in der Roten Armee sogar als eine Art Bonus-System zur Entschädigung der Soldaten für ihren Dienst und die Härten der Kämpfe – weshalb es für Plünderung und Vergewaltigungen selbst ein eigenes Reglement gab! Denn, sehen Sie, die Soldaten der Roten Armee waren im großen und ganzen total demoralisierte, arme, kleine Leute, die oft wenig Aussicht hatten, diesen Krieg zu überleben. Sie hatten meist ein unglaublich schweres Leben hinter sich. Denken Sie nur an all die Terrorwellen der dreißiger Jahre, die Kollektivierung, die Deportationen, Verbannungen, Hunger und Not in der Sowjetunion. Sie wurden von ihren eigenen Generälen wie Vieh behandelt. Und nun plötzlich waren sie nicht mehr Sklaven, sondern Herren – gegenüber der Zivilbevölkerung. Seitens der sowjetischen Regierung war das eine Art Kompensation für alles, was die Soldaten erdulden mußten. Deshalb traf es auch Frauen befreundeter und „befreiter“ Nationen, traf es russische Frauen, traf es sogar Frauen, die aus den Konzentrationslagern kamen. 1944 besetzte die Rote Armee Jugoslawien, das dank der Tito-Partisanen ein verbündeter kommunistischer Staat war. Dennoch kam es zu Mord, Plünderung und Vergewaltigungen durch Sowjetsoldaten. Proteste der Tito-Regierung ignorierte Stalin. Der bekannte Schriftsteller und Politiker Milovan Djilas schildert in seinen Erinnerungen, daß Stalin ihm vorgeworfen habe, die Rote Armee mit dem jugoslawischen Protest beleidigt zu haben, denn es gebe nichts Schlimmeres als einem Soldaten vorzuenthalten, daß er sich nimmt, was er braucht oder sich mit einer Frau amüsiert. All das zeigt, daß die Verbrechen Teil der sowjetischen Kriegsführung waren und mit den Verbrechen der Nationalsozialisten nichts zu tun hatten.

Aber hat sich all das nach dem Stalinismus nicht geändert? War das denn noch die Sowjetarmee, die die Streitkräfte der Russischen Föderation 1992 beerbt haben?

Chmelnizki: Natürlich hat sich auch in der Sowjetarmee etwas geändert. Doch wie wenig, das mußten wir während der sowjetischen Invasion in Afghanistan 1979 bis 1989 sehen. Seit dem Einmarsch in der Ukraine wird immer wieder mal auch an die etwa 15.000 Gefallenen am Hindukusch erinnert. Vergessen wird dabei aber oft, daß das nur die sowjetischen Opfer sind – denen etwa eine Million afghanische Zivilisten gegenüberstehen, die der sowjetischen Kriegsführung zum Opfer gefallen sind.

... und der mit den Sowjets verbündeten damaligen kommunistischen Regierung in Kabul. – Wobei Kriegstote auch nicht gleich Opfer von Kriegsverbrechen sind.

Chmelnizki: Ja, natürlich. Doch der Krieg wurde mit unglaublicher Härte geführt. So vernichteten sowjetische Soldaten ganze Dörfer. Entweder wurde aus der Luft alles niedergebombt und -geschossen oder es landeten Helikopter, Rotarmisten stürmten heraus, brannten alles nieder und ermordeten die Bevölkerung, inklusive Frauen, Kinder und Alte. Und nochmals, das waren natürlich keine regulären, legitimen Kampfhandlungen – aber auch keine Kriegsverbrechen im Sinne von Exzessen, sondern es war gezielte Vernichtung von Zivilisten als Kriegsstrategie.

Was war denn der Zweck?

Chmelnizki: Zum einen, so zu verhindern, daß aufständische Mudschaheddin-Kämpfer dort Unterstützung finden konnten, zum anderen, die Bevölkerung einfach zu terrorisieren. Und nicht nur Dörfer, auch Verbindungsstraßen wurden angegriffen und Zivilisten, die dort unterwegs waren, einfach getötet. Und weil all das, wie gesagt, von der Sowjetarmee nicht als Kriegsverbrechen, sondern als Kriegsführung betrachtet wurde, wurde folglich auch nie ein Kommandeur oder Offizier dafür bestraft.

Der Afghanistankrieg fand allerdings vor dem Entstehen des neuen Rußland 1992 statt.

Chmelnizki: Ja, aber die Kontinuität zur Sojwetarmee und zum Afghanistankrieg zeigte sich spätestens mit den beiden Tschetschenienkriegen 1994 bis 1996 und 1999 bis 2009, in denen es erneut zu schweren Kriegsverbrechen kam. Zigtausende Zivilisten wurden entführt, gefoltert, ermordet, zahlreiche Vergewaltigungen, Plünderungen und Erpressungen ereigneten sich. Täter waren dabei allerdings nicht nur russische Truppen, sondern auch die mit ihnen verbündeten Soldaten Ramsan Kadyrows, der ja nun auch Einheiten zur Unterstützung Putins in die Ukraine entsandt hat und dessen Männern der Ruf vorauseilt, wahre Schlächter zu sein.

2003 wurde allerdings ein russischer Kommandeur wegen Vergewaltigung und Ermordung einer 18jährigen tschetschenischen Zivilisten verurteilt.

Chmelnizki: Ja, zu gerade einmal zehn Jahren, von denen er nur gut fünf absaß. Zudem war der Fall eine Ausnahme.

Sie sprechen von Kriegsverbrechen als Strategie der Sowjetarmee. Sehen Sie eine solche auch nun bei den russischen Streitkräften in der Ukraine? Und wenn ja, welchen Zweck sollte sie haben?

Chmelnizki: Es ist die gleiche Strategie wie früher, den Gegner mittels Kriegsverbrechen maximal zu treffen, ihm die Erbarmungslosigkeit der russischen Armee zu demonstrieren, ihn zu terrorisieren, ihn in Angst und Schrecken zu versetzen.

Aber erzeugt das nicht nur mehr Widerstand?

Chmelnizki: Natürlich, aber diese Einsicht moderner asymmetrischer Kriegführung ist in der Doktrin der russischen Armee nicht vorgesehen.

Warum nicht, die Russen müssen diese Beobachtung doch auch gemacht haben?

Chmelnizki: Sie unterschätzen, wie primitiv und unflexibel diese Leute sind – und wie sehr sie von der Unbesiegbarkeit der russischen Armee überzeugt sind. Offenbar traut man sich ja nicht einmal, Putin die Wahrheit über den Krieg zu sagen. Nichts soll das Selbstbild stören.

Wer jetzt für Verständigung mit Moskau eintritt, gilt als „Putin-Versteher“, „Gefahr für unsere Demokratie“, eventuell als böser Rechter. Als allerdings die Sowjets in Afghanistan das gleiche taten wie Putin heute in der Ukraine – nur mit einem Vielfachen an Opfern –, da suchte man im Westen Verständigung, ja sogar Freundschaft mit Moskau. Und wer damals wegen des Krieges und der Verbrechen dagegen war, der wurde als „Kalter Krieger“ und böser Rechter verunglimpft. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Chmelnizki: Das hängt mit der schon genannten Verklärung der Roten Armee als Befreier zusammen und damit, daß der Kommunismus im Westen als nicht so schlimm galt. Das war Folge der Mystifizierung des Nationalsozialismus als des einzig Bösen – woraus folgt, daß die Sowjetunion zu den „Guten“ gehörte. Ich möchte Ihre Frage zudem bitte noch ergänzen: Wie ist es möglich, den Einmarsch in die Ukraine zu verurteilen und gleichzeitig die riesigen sowjetischen Ehrenmale zum Beispiel in Berlin zu akzeptieren? Dabei bin ich nicht unbedingt dafür, sie abzureißen, aber sie sollten als das verstanden werden, was sie sind: nicht Ehrenmale der Roten Armee, sondern Mahnmale ihrer Eroberung halb Europas und ihrer Besatzungsherrschaft. Und das ist keineswegs gegen die russischen Soldaten an sich gerichtet, denn die Rote Armee konnte schon deshalb niemanden befreien, weil sie selbst aus Leuten bestand, denen alle bürgerlichen Rechte weggenommen worden waren, die von keinem Gesetz geschützt wurden und die selbst also völlig unfrei waren. Und die Rote Armee säuberte Osteuropa zwar von den Nazis, aber nicht um es zu befreien, sondern um es zu erobern, was erneut mit schwersten Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung in allen diesen Ländern einherging. Das ist die Wahrheit, die diese sowjetischen Ehrenmale umlügen sollen – übrigens ganz im Sinne Wladimir Putins. Heute verkörpern sie seine Ideologie, wonach die Russen als Befreier kommen, und auf deren Grundlage er nun versucht, die Ukraine zu zerstören.






Dr. Dmitrij Chmelnizki, der Rußlandexperte ist Herausgeber einer russischen Buchreihe zum Zweiten Weltkrieg, die unabhängige, etablierte Historiker aus Rußland, England, Deutschland, Israel und den USA versammelt, sowie zweier deutscher Bücher zu Stalins Krieg. Zudem schrieb er für verschiedene Zeitungen wie die Literaturnaja Gaseta oder die Moskowskije Nowosti. Geboren 1953 in Moskau, studierte er Architektur in Leningrad und promovierte in Berlin. 1987 siedelte die Familie nach Deutschland über. 

Foto: Mögliche Opfer von Kriegsverbrechen, aufgereiht am 10. April auf einem Friedhof in Butscha, nordwestlich von Kiew: „Weder Soldaten noch Offiziere oder Generäle verstehen den Begriff Kriegsverbrechen. Er gehört schlicht nicht zu ihrem Vokabular“