© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/22 / 15. April 2022

Der Nachwuchs fehlt
Lehrermangel: Eine aktuelle Studie widerspricht den Zahlen der Kultusministerkonferenz – droht der Kollaps in den Schulen?
Ronald Berthold

Droht Deutschland der Schulkollaps? Schon Mitte des kommenden Jahrzehnts könnten 160.000 Lehrer fehlen. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie, die der Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Auftrag gegeben hat. Die Zahlen widersprechen auf spektakuläre Weise der Prognose der Kultusministerkonferenz (KMK). Für 2035 sieht diese „nur“ einen Pädagogenmangel von 23.800. Der VBE-Experte, Bildungsforscher Klaus Klemm, führt die absehbare katastrophale Lage des Bildungswesens unter anderem auf die große Zuwanderung und die auch dadurch deutlich gestiegene Geburtenrate zurück. Er rechnet vor: Nach 2011 sei die Zahl der Geburten von 663.000 in nur fünf Jahren auf 792.000 gestiegen – ein Plus von 19,5 Prozent. Zwar sei der Wert 2020 wieder gefallen, aber er liege immer noch um 110.000 höher als 2011. Dies mache sich erst verzögert bei den Schülerzahlen bemerkbar.

Im Gegensatz dazu habe sich die starke Zuwanderung unmittelbar in den Schulen niedergeschlagen. Beides zusammen „hinterläßt noch weiterhin unübersehbare Spuren in der gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands – nicht zuletzt auch in der Schulentwicklung des Landes“. Klemm hat errechnet, ob der von der Kultusministerkonferenz ermittelte Bedarf an Lehrern stimmen kann. Die Bundesländer hätten „nicht mit konstanten Schüler-je-Stelle-Relationen gerechnet“, sondern „durch Reformmaßnahmen entstehende Bedarfe“ berücksichtigt.

Auch bei der Zahl der Lehramtsstudenten, also der künftigen Lehrer, sieht Klemm die Politik auf dem Holzweg. Er hält die Angabe der KMK für um mehr als 100.000 übertrieben. Statt 477.600 prognostiziert er nur 374.300 potentielle neue Pädagogen aus den Universitäten. Die Annahmen der Kultusminister seien weder „durch jüngste Entwicklungen bei den Studierendenzahlen im Lehramtsstudium gedeckt noch durch die Zahl der Schulabsolventinnen und -absolventen in den kommenden Jahren“.

Schon jetzt leidet die Qualität des Bildungswesens

Für den VBE-Bundesvorsitzenden Udo Beckmann ist die Studie des renommierten Forschers Wasser auf seine Mühlen. Er schlägt Alarm: „Die Zeiten der Schönrechnerei und das weitere Verschleppen dringend gebotener umfänglicher Maßnahmen zur Lehrkräftegewinnung und -bindung sind vorbei.“ Die Corona-Regeln hätten die Situation weiter verschärft: „Stand die Uhr vor der Pandemie noch auf kurz vor zwölf, ist es jetzt bereits fünf nach zwölf.“ Die Versuche der Politik zur Nachwuchsgewinnung für den Lehrerberuf lösten „sich damit abermals in Luft auf“.

Schon jetzt leidet die Qualität des Bildungswesens, weil der universitäre Nachwuchs fehlt – eine Folge vergangener Fehlkalkulationen der KMK. In deutschen Schulen unterrichten zunehmend Lehrkräfte, die dafür nicht akademisch ausgebildet sind. In Berlin zum Beispiel nähert sich die Zahl der in Masse eingestellten Quer- und Seiteneinsteiger bereits heute der der studierten Pädagogen an. Quereinsteiger verfügen zumindest über ein Referendariat, während Seiteneinsteiger weder das absolviert noch auf Lehramt studiert haben. Beide Gruppen aber unterrichten die Kinder.

Studie des Verbands Bildung und Erziehung: „Entwicklung von Lehrkraeftebedarf und -angebot in Deutschland“

 www.vbe.de