© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/22 / 15. April 2022

Ländersache: Nordrhein-Westfalen
Was wußte Wüst?
Karsten Mark

Mittags hü, abends hott: In einem grotesk anmutenden Eiertanz hat die nordrhein-westfälische Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) am Freitag abend ihr Amt niedergelegt und dabei zu erklären versucht, warum sie noch wenige Stunden zuvor das genaue Gegenteil verkündet hatte: Sie habe wohl ein „falsches Bild“ von sich vermittelt. Das müsse sie akzeptieren und abtreten. So sei sie aber „nicht in Wirklichkeit“.

Weiterer Erläuterungen bedurfte es bei diesem Pressetermin nicht, denn die Medien hatten bereits ans Licht gebracht, was die Ministerin ein Dreivierteljahr erfolgreich verschleiert hatte: daß sie an ihrem Zweitwohnsitz auf Mallorca den Geburtstag ihres Mannes feierte, während zu Hause nach der verheerenden Hochwasserkatastrophe vom Juli 2021 Hunderte Bürger vor den Trümmern ihrer Existenz standen. Dabei war die Ministerin am Tag nach der verhängnisvollen Flutnacht tatsächlich zur Stelle. Sie unterbrach ihren Urlaub und flog nach Düsseldorf – reiste am Tag darauf aber schon wieder zurück in die Sonne. Als Grund für den schnellen Rückflug nannte sie im parlamentarischen Untersuchungsausschuß die Betreuung der minderjährigen Tochter und deren Freundinnen. Dem 76jährigen Vater sei das nicht zumutbar gewesen. Vier Tage habe sie dafür gebraucht. Eine Lüge, die sie später als „Bürofehler“ korrigieren wollte. In Wahrheit waren es neun Tage. Familie Esser verbrachte den Urlaub im vollen Umfang einschließlich der Geburtstagsfeier des Ehemannes, zu der neben den CDU-Ministern Ina Scharrenbach und Stephan Holthoff-Pförtner auch die damalige Intergrationsstaatsekretärin Serap Güler erschien. 

Pikant in diesem Zusammenhang ist, daß Scharrenbach, die als Kommunalministerin ebenfalls für Flutschäden und den Wiederaufbau zuständig ist, zu der Zeit auch noch Heinen-Essers Vertreterin war. Scharrenbach und Güler, die seit Oktober im Bundestag sitzt, haben sich mittlerweile über Twitter-Verlautbarungen recht kleinlaut entschuldigt. SPD-Oppositionsführer Thomas Kutschaty, der sich in den Wahlumfragen mit Amtsinhaber Hendrik Wüst zur Zeit ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefert, versucht nun auch den Ministerpräsidenten mit in Verantwortung zu nehmen. „Was wußte Wüst?“ lautet die große Frage, in der sich SPD, Grüne und AfD erstaunlich einig sind: Entweder habe auch er die Affäre lange verschwiegen – oder seinen Laden nicht im Griff. De facto war Wüst im vergangenen Sommer noch Verkehrsminister und hat Ende Oktober das Kabinett von Armin Laschet ohne größere Umbauten übernommen. 

Im Ringen um die Nachfolge, das Wüst am Ende mit großer Mehrheit gewann, hatte sich auch Ina Scharrenbach als Konkurrentin in Position gebracht. Scharrenbach hatte vor allem die Frauen-Union hinter sich, allerdings – anders als Wüst – kein Landtagsmandat, das sie als Ministerpräsidentin laut NRW-Landesverfassung gebraucht hätte. So ist anzunehmen, daß es sich bei der Mallorca-Clique um Heinen-Esser und Scharrenbach wohl nicht um die engsten Parteifreunde des neuen Ministerpräsidenten handelt. Gut möglich, daß Wüst tatsächlich erst spät von der Balearen-Sause erfahren hat.