© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/22 / 15. April 2022

Mal verliert man, mal gewinnen die anderen
Die Impfpflicht ist gescheitert, Impfstoffe verfallen, Maßnahmen werden zurückgenommen: Die Corona-Politik von Gesundheitsminister Lauterbach gerät in eine gefährliche Schieflage. Von Rücktritt will er dennoch nichts wissen.
Florian Werner

Schon eine halbe Stunde vor der Abstimmung wurde das Getuschel in den Reihen der Bundestagsabgeordneten merklich lauter. Die Debatte über eine Corona-Impfpflicht wurde von taktischen Finten, Sticheleien und zahlreichen Interna bestimmt. Zur Wahl standen vier teils fraktionsübergreifende Anträge. Der Aussprache lag eine Beschlußempfehlung des Gesundheitsausschusses zugrunde.

Während sich die Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht in letzter Minute auf einen Kompromiß einigten, lehnten Parlamentarier rund um den stellvertretenden FDP-Parteivorsitzenden Wolfgang Kubicki eine Impfverpflichtung mit Verweis auf verfassungsrechtliche Bedenken ab. Eine ähnliche Gesetzesvorlage präsentierte auch die AfD, während die Unionsfraktion in ihrem sogenannten Vorsorgegesetz für ein gestuftes Impfmodell plädierte. Immer klarer schien sich im Laufe der Redebeiträge indes herauszustellen, daß selbst die Impfpflicht ab 60 wohl keine Mehrheit im Bundestag bekommen würde.

Dementsprechend heftig fiel die Reaktion der Impfpflichtbefürworter rund um die beiden Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann (FDP) und Janosch Dahmen (Grüne) aus, die die Gesetzesvorlage wesentlich mitgestaltet hatten. Für das Scheitern ihres Entwurfs machten sie vor allem die Unionsfraktion unter Friedrich Merz (CDU) verantwortlich, die bis zuletzt an ihrem sogenannten Impfvorsorgegesetz festhielt. „Demokratie besteht nicht daraus, daß man einen wirkungslosen, halbfertigen Antrag in den Raum wirft, dann die Tür verschließt und nicht mehr ans Telefon geht. Demokratie besteht daraus, einen Gesetzesentwurf vorzulegen, in Verhandlungen zu gehen und im Parlament Kompromisse zu schließen“, empörte sich Dahmen während der Aussprache im Plenum des Bundestages. 

Der Unionsfraktionsvorsitzende Friedrich Merz konterte die Vorwürfe. „Die Tatsache, daß sie sich überhaupt so intensiv mit uns beschäftigen, hat ihre Ursache allein darin, daß die FDP-Fraktion überhaupt keine Zustimmung zu einer Impfpflicht im Bundestag erwägt.“ Die Ampel-Fraktionen manipulierten die Abstimmungsreihenfolge, um von der Uneinigkeit in ihren eigenen Reihen abzulenken.

Neben der Union mußte allerdings auch die FDP im Bundestag heftige Kritik einstecken. Die Partei war während der gesamten Debatte in Impfpflichtbefürworter und -verweigerer gespalten. Wolfgang Kubicki verteidigte in seiner Rede seinen Vorstoß gegen ein allgemeines Impfmandat. Weder werde durch die Impfung eine Herdenimmunität erreicht, noch seien Ungeimpfte schuld an der Weitergabe der Krankheit. „Impfungen dienen dem Selbstschutz und nicht dem Fremdschutz“, unterstrich er in seinem Wortbeitrag. Von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wurde er für diese Äußerungen scharf angegriffen. „Sie haben uns eben vorgetragen, was im Herbst passieren wird. Seien Sie bescheidener – ich gebe Ihnen Forschungsliteratur zu dem Thema.“ Lauterbach mahnte, der Liberale solle keine falschen Sicherheiten vortäuschen. Omikron werde nur deshalb als „milde“ Corona-Variante bezeichnet, weil bereits so viele Menschen in Deutschland bereits geimpft seien.

Millionen von Impfdosen drohen zu verfallen

Die verfahrene Bundestagsdebatte und das vorläufige Aus für die Impfpflicht kosteten Gesundheitsminister Lauterbach ein beträchtliches Stück seines Ansehens in der Bevölkerung. Gehörte der Sozialdemokrat sonst zu den beliebtesten Politikern Deutschlands, rutschte die Zustimmung zu seiner Arbeit zuletzt laut dem Meinungsforschungsinstitut Insa auf einen Wert von 53 auf 36 Prozent ab. Aber auch an einer anderen Front droht dem Minister Ungemach. So berichtete die Welt unter Berufung auf das Bundesgesundheitsministerium, daß in nur wenigen Monaten Millionen von Corona-Impfdosen der Verfall drohe.

Zum 4. April habe die Bundesregierung 77 Millionen Vakzine vorrätig. Bis Ende Juni allerdings würden mindestens elf Millionen der Medikamente ihr Haltbarkeitsdatum überschreiten. Im dritten Quartal des Jahres dann weitere 57 Millionen. Dann hätte sich die Einkaufsstrategie von Karl Lauterbach allerdings als Milliardengrab erwiesen. „Minister Lauterbach ist im Einkaufsrausch“, urteilte auch der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsbundestagsfraktion, Tino Sorge (CDU). „Der Minister kennt bei der Impfstoffbestellung keine Grenzen mehr. Er ordert, was immer da ist – der tatsächliche Bedarf und die Kosten spielen für ihn keine Rolle mehr.“ 

Noch im Dezember hatte Lauterbach von einem drohenden Impfstoffmangel gesprochen und seinem Amtsvorgänger Jens Spahn (CDU) eine nachlässige Beschaffungsstrategie vorgeworfen. Der Deutsche Hausärzteverband forderte nun, Impfstoffdosen vorausschauend an Drittstaaten weiterzureichen, damit diese nicht ungenutzt verfallen. „Aktuell sehen wir leider sehr wenig Nachfrage nach Impfterminen“, kommentierte der Bundesvorsitzende der Organisation, Ulrich Weigeldt, die Lage hierzulande der Welt gegenüber. Dennoch ging Lauterbach zuletzt wieder in die Offensive. 

Auf einer Pressekonferenz des Robert-Koch-Instituts warnte der Politiker erneut vor einem Anstieg der Infektionszahlen im Herbst und schloß eine weitere Rücknahme von Corona-Maßnahmen aus. „Das, was wir an Lockerungen machen konnten, haben wir verbraucht.“ Für weitere Schritte sehe er „keinen Spielraum“. Hätte sich eine Mehrheit für eine Impfpflicht im Bundestag gefunden, hätte das Infektionsschutzgesetz in Zukunft wahrscheinlich großzügiger ausgelegt werden können. So allerdings werde man im Herbst erneut zu weitreichenden Einschränkungen greifen müssen, warnte Lauterbach. 

Lauterbach will erneut über Impfpflicht abstimmen

Der Bild-Zeitung gegenüber kündigte Lauterbach sogar an, den Bundestag ein weiteres Mal mit einem Entwurf für eine allgemeine Impfpflicht zu befassen. Daran wolle er zusammen mit Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) arbeiten. „Als Arzt und Politiker gebe ich nie auf, wenn es um das Leben anderer Menschen geht“, äußerte Lauterbach. Damit stellte sich der Minister gegen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der kurz nach der Abstimmung im Bundestag verlautbarte, er sehe keine Chance für einen zweiten Anlauf in Sachen Impfpflicht. Hinzu kommt noch das unglückliche Agieren Lauterbachs mit Blick auf die Isolationspflicht im Falle einer Corona-Erkrankung. Ein Bund-Länder-Treffen hatte sich zuletzt mit Verweis auf die Überlastung der Gesundheitsämter darauf verständigt, diese ab dem 1. Mai fallenzulassen. Auch das RKI hatte sich für den Schritt ausgesprochen. Lauterbach widerrief diesen Entschluß allerdings kurz darauf wieder und nannte das Ende der Isolationspflicht „falsch und schädlich“. Für den Rückzieher übernahm Lauterbach die Verantwortung. „Hier habe ich einen Fehler gemacht“, twitterte er. 

Vor dem Hintergrund der jüngsten Mißgriffe des sozialdemokratischen Gesundheitsministers mehrte sich zuletzt der Tadel – auch aus Lauterbachs eigener Partei. „Die Wankelmütigkeit des Bundesgesundheitsministers ist irritierend. So etwas darf nicht passieren“, monierte etwa Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) im Sender Radio Bremen. AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla ging noch weiter. Lauterbach habe jetzt die Wahl zwischen seinem freiwilligen Rücktritt und der Entlassung. Einen Amtsverzicht hatte dieser allerdings schon im vorhinein ausgeschlossen. Darüber denke er „natürlich nicht“ nach, sagte der Minister zuletzt im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. 

Foto: Karl Lauterbach (SPD): Eine weitere Rücknahme von Corona-Maßnahmen schließt er aus