© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/22 / 15. April 2022

Grüße aus … Bern
Kapitalismus in voller Blüte
Frank Liebermann

In den vergangenen Tagen war in der deutschen Presse zu vernehmen, daß ein paar nicht ganz so schlaue Nachwuchspolitiker einer sozialdemokratischen Volkspartei die Vergesellschaftung von Lebensmittelhändlern forderten. In Bern kommt niemand auf so eine Idee. Hier ist eher das Gegenteil der Fall. Der Detailhandel wuchert, der Kapitalismus lebt sich in seiner gesamten Wucht aus.

Jahrzehntelang blieben Migros und Coop unter sich. Sie beherrschten den Schweizer Detailhandelsmarkt, Konkurrenz gab es so gut wie keine. Alle profitierten davon. Migros, die eine Genossenschaft, hielt die Preise für Güter des täglichen Bedarfs gering, so daß sich auch Menschen mit einem niedrigen Einkommen bestens versorgen konnten. Coop war so ähnlich, mit einer großen Ausnahme: Dort gibt es zusätzlich Bier, Schnaps und Zigaretten zu kaufen, was der Migros-Chef aus moralischen Gründen untersagte und in die Genossenschaftsregeln aufnehmen ließ.

Mit einem Kaffee für einen Franken läßt Lidl am Bahnhof die Konkurrenz schlecht aussehen.

Gern erinnere ich mich an meine Kindheit. Damals fuhr unsere Familie inklusive Großmutter in die benachbarte Schweiz zum Einkaufen. Nudeln, Tee, Kaffee, Gewürze und ein paar andere Dinge waren günstiger als in der schwäbischen Heimat, und die Schokolade war einfach besser. Die Einkaufstouristen erkannte man schon daran, daß von weitem die Freudenrufe „Es isch alles so billig!“ zu vernehmen waren. Mit der Abschaffung der Deutschen Mark veränderte sich das. Dank dem Euro wurde der Einkaufstourismus zu einer Einbahnstraße. Migros versuchte sich in Süddeutschland mit ein paar Filialen zu etablieren, scheiterte aber kläglich.

Die deutschen Discounter waren da pfiffiger. Seit einigen Jahren haben sich Aldi und Lidl in der Schweiz ausgebreitet. In Bern waren sie überall dort zu finden, wo es günstige Immobilien und Parkplätze gab, meistens in Industriegebieten am Stadtrand. Wie hier. Gestört haben sie niemanden. 

Jetzt haben die Discounter ihre Strategie geändert. Sie breiten sich in der Innenstadt aus. Lidl und Aldi haben in kürzester Zeit unzählige Standorte übernommen. Ein beliebter Metzger, ein Pub und eine Buchhandlungskette mußten weichen. Die Besucher strömen in Scharen in die neuen Ladenlokale. Sie sehen nicht nur schick aus, sondern unterbieten auch die Preise der Konkurrenz. Mit einem Kaffee für einen Franken läßt Lidl am Bahnhof die Konkurrenz schlecht aussehen. Vergleichbares kostet dort dreimal mehr. 

Einen Vorteil haben die Eindringlinge: Viele Produkte, die es bei den etablierten Läden nicht gab, stehen bei den neuen Discountern im Regal. Jetzt muß ich nicht mehr mit dem Auto ins Industriegebiet fahren, um Maultaschen zu kaufen. Die gibt es nämlich nur bei Aldi und Lidl.