© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/22 / 15. April 2022

Radikale Abkehr
Energiepolitik: EU untersagt Import russischer Steinkohle
Paul Leonhard

Ob Asyl, Gendergaga oder Klima – die Mehrheit im EU-Parlament glaubt immer, besonders viel „Haltung“ zeigen zu müssen. Daher forderten vorige Woche 513 von 705 Abgeordneten einen sofortigen Lieferstopp von Öl, Kohle und Gas aus Rußland. Die Regierungen der 27 Mitgliedsstaaten können allerdings die meisten Radikalforderungen entschärfen. Daher wurde das fünfte EU-Sanktionspaket anläßlich des Ukraine-Kriegs noch nicht zum Todesstoß für die deutsche Volkswirtschaft: Öl und Gas fließen weiter, nur ein Kohle-Einfuhrverbot wurde vergangenen Freitag verkündet.

„Das betrifft ein Viertel aller russischen Kohle-Exporte und bedeutet für Rußland Einnahmeverluste von acht Milliarden Euro jährlich“, hieß es aus Brüssel. Zudem wurden Importverbote für im Umfang Milliarden Euro für Alkoholika, Gummiprodukte, Holz, Meeresfrüchte und Zement beschlossen. Es gibt ein Einlaufverbot für Schiffe unter russischer Flagge, russische und weißrussische Speditionen unterliegen in der EU einem Tätigkeitverbot. Auf Wodka und Kaviar läßt sich verzichten – aber auch auf Steinkohle?

Ja, glauben Energieexperten. Denn noch Ende der 1990er Jahre wurde überhaupt keine Steinkohle aus Rußland nach Deutschland importiert. Erst mit Stillegung der rheinischen Steinkohlezechen wurde das schwarze Gold aus dem Osten interessant. Der Einfuhrhöchststand wurde 2017 erreicht, als rund 20 Millionen Tonnen geliefert wurden. 2021 waren es nur noch 18 Millionen Tonnen Steinkohle – bei einem Gesamtverbrauch von 31 Millionen Tonnen. EU-weit liegt der Anteil russischer Kohle bei etwa 45 Prozent. Zudem wurde bereits seit Monaten verstärkt auf andere Lieferanten zurückgegriffen, weil sich in Rußland „logistische Probleme gehäuft haben“, erklärte Alexander Bethe, Chef des Vereins der Kohleimporteure (VdKi), im Handelsblatt.

Güterzüge aus den sibirischen Bergbaugebieten seien viel später als geplant in den baltischen Ostseehäfen eingetroffen, so daß man sich nach neuen Vertragspartnern umgesehen habe. Seit September 2021 werde verstärkt auf Kohle aus Südafrika und Mosambik zurückgegriffen. Global führendes Kohleexportland ist übrigens Indonesien mit rund 407 Millionen Tonnen (2020), gefolgt von Australien (371). Rußland (199), Südafrika (75), die USA (63), Kolumbien (52), Kanada (36), die Mongolei (31) und Kasachstan (25) folgen mit großem Abstand. Größtes Förderland ist China, das aber seine Kohle selbst verfeuert. Außerdem gibt es noch größere Abbaugebiete in Polen und der Ukraine.

Das schwarze Gold nun viermal so teuer wie noch vor einem Jahr

Deutschland werde wohl künftig seine Steinkohle vermehrt per Schiff aus den USA, Kanada und Kolumbien beziehen, prognostiziert die Ökonomin Lisa Just vom Energiewirtschaftlichen Institut der Uni Köln. Voraussetzung sei allerdings, daß genügend Transportkapazitäten vorhanden sind. Zudem benötigt die Kohle Zeit, um nach Europa zu gelangen. Darauf verweist ein Bericht des Wirtschaftsministeriums an den Wirtschaftsausschuß des Bundestages. Bei einem sofortigen Lieferstopp innerhalb weniger Wochen würde Kohle tatsächlich knapp – 2021 kamen 9,5 Prozent des deutschen Stroms aus Steinkohlekraftwerken. Die Vorräte in den Kraftwerken und Häfen würden nur „für etwa vier bis sechs Wochen je nach Betrieb des Kraftwerks“ reichen, heißt es in dem Papier. Die noch verfügbare Kohle müsse „priorisiert eingesetzt werden, um die Netzstabilität zu gewährleisten“ – sprich: Einige gewerbliche Stromverbraucher werden also vom Netz genommen.

Derzeit wird die Hälfte der Steinkohlelieferungen in den Kraftwerken für die Strom- oder Wärmeproduktion verwendet, die andere Hälfte für die Industrie, etwa die Stahlbranche. Ein kompletter Verzicht auf russische Kohle soll aber bis zum Herbst möglich sein. Allerdings wird das teuer: Mit 300 Dollar pro Tonne ist Steinkohle inzwischen viermal so teuer wie vor einem Jahr. Kurzfristig könne es zu weiteren Preissteigerungen kommen, prognostiziert Felix Müsgens, Professor für Energiewirtschaft an der BTU Cottbus. Auch VdKi-Chef Bethe rechnet damit, daß sich die Liefersituation mittel- und langfristig entspannen werde.

Das glaubt auch Karen Pittel vom Ifo-Institut, da beim Strom Stein- durch Braunkohle ersetzt werden könne. Und wegen der relativ geringen finanziellen Bedeutung von Kohleexporten, ist dieses Embargo für Rußland wenig bedrohlich, sagt Pittel. Ausgehend von den verfügbaren Daten werde ein Energieembargo die Stabilität der russischen Wirtschaft nicht entscheidend beeinträchtigen, analysiert auch Alfons Weichenrieder vom Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung (SAFE). Rußland weise seit Jahren ein niedriges Staatsdefizit und eine geringe Verschuldung auf. Selbst drastische Einnahmenverluste bei niedrigen Öl- und Gaspreisen konnten großteils durch höhere öffentliche Defizite kompensiert werden, so zum Beispiel in den Jahren 2011 bis 2016, so der Professor für Finanzwissenschaft von der Uni Frankfurt, im aktuellen SAFE Policy Letter (96/22).

Ähnlich sieht es Jens Südekum, Professor am Institut für Wettbewerbsökonomie an der Uni Düsseldorf. Wladimir Putin könne seine Kohle an China und verkaufen, da der Rohstoff über Eisenbahnen und Schiffe geliefert wird. Ein Kohleembargo werde lediglich zu einer Verschiebung von Handelsbeziehungen führen – bei Erdgas, das durch Pipelines fließt, gehe das allerdings nicht so einfach. Interessiert dürfte der Kreml auch die Äußerung von Wirtschaftsminister Robert Habeck zur Kenntnis genommen haben, daß es für ein totales Energieembargo gegenüber Rußland zu früh sei, denn „noch wären die ökonomischen und sozialen Folgen zu gravierend“.

Fünftes EU-Sanktionspaket gegen Rußland:

 ec.europa.eu

 safe-frankfurt.de