© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/22 / 15. April 2022

Ausgequetscht wie eine Zitrone
Der Stabilitätsanker Mittelschicht gerät ins Wanken: Die Angehörigen der Einkommensschicht, die vom Staat am meisten abgemolken wird, sind stärker von Abstieg bedroht als früher. Wer einmal herausgefallen ist, schafft es schwerlich wieder nach oben
Paul Leonhard

Die Armen werden immer ärmer, die Reichen immer reicher. Wenn die deutsche Linke mit einer Prophezeiung recht hat, dann mit dieser. Und die hart arbeitenden Menschen in der Mitte der Gesellschaft, die diese stabilisieren, weil sie gegen Verlockungen rechter wie linker Extremisten relativ immun sind, schwinden, sacken, vom Staat als Melkkuh für immer neue teure Experimente mißbraucht, mehrheitlich in Richtung Armut ab.

Das ist auch das Ergebnis der Bertelsmann-Studie „Bröckelt die Mittelschicht? Risiken und Chancen für mittlere Einkommensgruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt“. Darin erinnern die Autoren in der ursprünglich in englischer Sprache von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) veröffentlichten Schrift, daß die Mittelschicht ein wesentlicher Eckpfeiler der sozialen Marktwirtschaft ist, den Großteil des Steueraufkommens erbringt und somit wesentlich zur Handlungsfähigkeit des Staates beiträgt und daß gerade diese „breite Wohlstandsbasis hierzulande“ für eine starke Binnennachfrage sorgt, die wiederum das Land attraktiv für in- und ausländische Investoren macht und Innovationspotentiale zur Entfaltung kommen läßt.

„Der Fahrstuhl nach oben fährt weiter, aber es fahren weniger mit“

Laut Definition der Autoren gehören zur Mittelschicht Personen, die im Haushalt über ein Einkommen zwischen 75 und 200 Prozent des nationalen Medians verfügen. Das entsprach 2018 einem monatlich verfügbaren Einkommen von etwa 1.500 bis 4.000 Euro für Alleinstehende und 3.000 bis 8.000 Euro für ein Paar mit zwei Kindern. Unterschieden wird weiterhin zwischen der unteren (75 bis 100 Prozent), der mittleren (100 bis 150) und der oberen (150 bis 200) Mittelschicht.

Die Mittelschicht ist dabei im Durchschnitt eine Nettozahlerin des Steuer- und Sozialversicherungssystems: Die Summe der auf das Einkommen gezahlten Steuern und Sozialversicherungsbeiträge überstieg 2018 mit 39 gegenüber 27 Prozent den Gesamtwert der erhaltenen Sozialleistungen.

Der Stabilitätsanker Mittelschicht ist ins Wanken geraten. Seit der Wiedervereinigung verschwanden zweieinhalb Millionen Deutsche aus dieser Einkommensschicht. Insbesondere die Angehörigen der unteren Mittelschicht, deren Einkommen also zwischen 75 und 100 Prozent des Medians betragen, sind von Stagnation oder Abstieg betroffen. „Der Fahrstuhl nach oben fährt weiter, aber es fahren weniger mit“, stellte Dorothee Spannagel fest, die 2018 im Auftrag der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung eine Studie zu Armut und Reichtum in Deutschland erstellt hatte. Laut dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2017 besitzen die reichsten zehn Prozent der Haushalte mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens, die untere Hälfte ein Prozent.

2018 zählten 64 Prozent der Bevölkerung zur mittleren Einkommensgruppe, 1995 waren es noch 70 Prozent. Damit sind 22 Prozent der Menschen zwischen 18 und 64 Jahren in die untere Einkommensschicht gerutscht, das heißt arm oder von Armut bedroht. Dazu kommen noch beträchtliche regionale Unterschiede der Größe der Mittelschicht, vor allem zwischen Ost und West. Der Anteil der Haushalte mit mittleren Einkommen sinke, stellte bereits Spannagel fest.

„Mittelschichtler bekommen anders als die Unterschicht wenige Sozialleistungen, und sie können anders als die Oberschicht kaum Steuertricks oder Vergünstigungen für Reiche nutzen“, konstatierte Alexander Hagelüken in seinem Sachbuch „Das gespaltene Land“ (Droemer-Knaur-Verlag). Die Mittelschicht trage aber die finanziellen Lasten der Gesellschaft, ohne sie brächen Rentensystem und Krankenversicherung zusammen, ohne sie ließen sich keine Lehrer und Polizisten entlohnen.

Zwischen 2014 und 2017 rutschte mehr als jeder fünfte dieser Gruppe in die untere Einkommensschicht ab, während die Chancen, aus der unteren Einkommensschicht in die Mittelschicht aufzusteigen, sich um mehr als zehn Prozentpunkte verringert haben: „Wer einmal aus der Mittelschicht herausfällt oder bislang stets am unteren Ende der Einkommensverteilung gestanden hat, tut sich heute deutlich schwerer, den (Wieder-)Einstieg zu schaffen.“ Das ist vor allem deswegen für die Gesamtgesellschaft verhängnisvoll, weil es die Angehörigen der Mittelschicht sind, die in ihre Bildung und damit in ihre Leistungsfähigkeit investieren und bereit sind, sich in die Gestaltung des Systems einzubringen.

Die Erkenntnis, daß die Mittelschicht erodiert, ist nicht neu. Auch die Ursachen sind bekannt. In seinem Buch „Das Ende der Mittelschicht. Abschied von einem deutschen Erfolgsmodell“ hatte der Focus-Autor Daniel Goffart bereits 2019 eine akribische Bestandsaufnahme vorgelegt, die Versäumnisse der Vergangenheit analysiert, Herausforderungen der Gegenwart benannt und die Risiken der Zukunft umrissen. Bei der Lektüre habe er sich „zwischendurch des Gefühls wachsender Verzweiflung erwehren müssen“, gestand der damalige Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD).

Goffart verweist in seinem Buch darauf, daß die gesellschaftliche Schere bereits mit der steigenden Arbeitslosigkeit in den 1970er Jahren, dem sinkenden Gehaltsniveau und der kontinuierlich gestiegenen Steuer- und Abgabenlast auseinanderging. Schon für den Geburtsjahrgang 1965 sei es im Schnitt nicht mehr möglich gewesen, das Lebenseinkommen früherer Jahrgänge zu erreichen. Seit den Babyboomern habe sich die Größe der Mittelschicht von Generation zu Generation verringert, heißt es auch in der Bertelsmann-Studie. Im Alter zwischen 20 und 39 Jahren gehörten 71 Prozent der Babyboomer zur mittleren Einkommensgruppe, während die Anteile der Generation X (Mitte der 1960er bis Anfang der 1980er Jahre Geborene) und der Millennials (Anfang der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre Geborene) im gleichen Alter auf 68 beziehungsweise 61 Prozent zurückgegangen sind.

Neuen Schwung in den Abwärtstrend hat die stetig voranschreitende Digitalisierung gebracht, die Hunderttausende Arbeitsplätze kostet und deren eigentliche Umbrüche durch Automatisierung und künstliche Intelligenz noch bevorstehen. Digitalisierung und Dekarbonisierung würden in der Mehrzahl gutbezahlte und bislang gut abgesicherte Arbeitsplätze bedrängen: „Zwar finden viele, die ihre Arbeit in diesen Bereichen verlieren, neue Beschäftigungsfelder, die aber oft von schlechteren Bedingungen und größerer Unsicherheit gekennzeichnet sind.“

Auch seien die Institutionen der sozialen Marktwirtschaft immer weniger in der Lage, das Aufstiegsversprechen tatsächlich einzulösen, so die Autoren. Phänomene wie Armutsvererbung, andauernde prekäre Beschäftigung oder fehlende Leistungsanreize im Steuer- und Transfersystem seien nur einige Beispiele dafür. Interessant dabei ist, daß das Schwinden der mittleren Einkommensgruppe offenbar ein deutsches Problem ist. So vollzog es sich in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre schneller als in den meisten anderen OECD-Ländern. Nur in Schweden, Finnland und Luxemburg ging es mit den mittleren Einkommensgruppen noch schneller bergab. In allen 26 OECD-Ländern, für die Daten vorliegen, hat sich die Mittelschicht im Durchschnitt sogar leicht vergrößert, nämlich um 0,3 Prozentpunkte.

Steuern und Sozialabgaben senken als Königsweg aus der Krise

Die Wahrscheinlichkeit, daß Migranten den Aufstieg in die Mittelschicht schaffen, wird in der Studie als geringer als Mitte der 1990er Jahre eingeschätzt, was „die veränderte Zusammensetzung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland widerspiegeln könnte“. So sei der Anteil der im Ausland geborenen Personen in der mittleren Einkommensgruppe um zwei Prozentpunkte und damit nur halb so stark gestiegen wie der Anteil der Zugewanderten an der Gesamtbevölkerung. Stammten 1995 die meisten Migranten aus mittel- und osteuropäischen Ländern, der Türkei oder Italien, so handele es sich bei den „humanitären Migranten“ ab 2015 vor allem aus Syrien, dem Irak und Afghanistan um Personen, „die möglicherweise länger brauchen, um sich in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren und in die Mittelschicht aufzusteigen“.

Als Mittel zur Unterstützung des Mittelstands nennt Autor Hagelüken vor allem die Entlastung von Steuern und Sozialabgaben, bessere Löhne und mehr Unterstützung für Familien. Die Regierungsparteien, egal ob CDU, FDP, SPD oder Grüne, tun das Gegenteil. Sie lassen die ganz Reichen gewähren, fördern die Armen und Arbeitsunwilligen und drangsalieren wie gewohnt den Mittelstand. Trotz aller politischen Loblieder auf den Mittelstand seien Haushalte mit mittlerem Einkommen mit einer vergleichsweise hohen effektiven Steuerbelastung auf ihre Arbeitseinkommen konfrontiert, heißt es in der Studie der Bertelsmann-Stiftung. Für einen Alleinstehenden ohne Kinder, der 2021 den Durchschnittslohn verdiente, belaufen sich die Einkommensteuern und Sozialversicherungsbeiträge nach Abzug von Sozialleistungen auf 38 Prozent des Bruttohaushaltseinkommens – und damit auf eine höhere Quote als in Österreich, Dänemark, Frankreich, den Niederlanden und Schweden.

Gleichzeitig sei die Progressivität bei höheren Einkommen sehr viel geringer. Deutschland könnte die steuerliche Belastung von Arbeitseinkommen der Mittelschicht verringern, indem es den Einkommensteuertarif überarbeitet und die steuerlichen Belastungen zugunsten des Faktors Arbeit verlagert, schlagen die Autoren der Studie vor. Optionen zur Erhöhung der Steuerprogression könnten die Anhebung der unteren Schwellenwerte der Einkommensteuertabelle für mittlere Einkommen oder die Senkung der Grenzsteuersätze sein, um den Mittelstandsbauch abzuflachen. Diese Maßnahmen könnten durch eine Anhebung der Grenzsteuersätze für Spitzenverdiener ergänzt – und teilweise finanziert – werden. Weitere Optionen wären die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenzen in der Sozialversicherung und die Verlagerung der Steuerlast vom Arbeitseinkommen auf andere Steuerquellen, zum Beispiel durch eine stärkere Besteuerung von Kapitaleinkünften und die Abschaffung von Ausnahmen bei der Erbschaftsteuer.

Auch kritisieren die Studienautoren, daß das Steuersystem Zweitverdienern in den Familien nur wenig Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit biete, da ein Haushalt, in dem eine Person eine Arbeit aufnimmt und in dem es bereits eine Person gibt, die 100 Prozent des Durchschnittslohns verdient, fast die Hälfte des zusätzlichen Verdienstes netto an Steuern zahlt. Um zur Mittelschicht zu gehören, brauche es aber zunehmend ein zweites gutes Arbeitseinkommen. „Wollen wir die Mittelschicht stärken, sollten Umfang und Qualität der Jobs von Frauen verbessert werden.“

„Das Ende der Mittelschicht ist nicht zwangsläufig, aber es läßt sich nur mit neuem Denken und entschlossener Gegenwehr verhindern“, schreibt Goffart und mahnt einen „digitalen Gesellschaftsvertrag“ an, um Fehlentwicklungen auf Kosten des Mittelstands bei der Digitalisierung zu korrigieren. Zudem sollten die großen Internetkonzerne Google, Amazon, Facebook und Apple schärfer reguliert und mehr zur Kasse gebeten werden. Die amtierenden Minister folgen dagegen dem Vorbild des einstigen Bundesarbeitsministers Heil: Augen zu und durch. Schon bei der ersten industriellen Revolution habe Karl Marx ein Ende der Mittelschicht prophezeit, erinnerte der Sozialdemokrat. Doch auch er sei widerlegt worden. „Die Arbeit ist uns nicht ausgegangen, auch wenn der Umbruch heftig war.“

 www.bertelsmann-stiftung.de

Foto: Breite Kluft zwischen Arm und Reich: Von jenseits des Grabens herüberzukommen ist deutlich schwerer geworden