© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/22 / 15. April 2022

Elefant im Porzellanladen
Wie ein Hochkommissar: Der ukrainische Botschafter attackiert die gesamte politische Klasse
Thorsten Hinz

Der stärkste Mann auf dem politischen Parkett in Berlin heißt zur Zeit Andrij Melnyk. Mit seinen im Stundentakt vorgebrachten Behauptungen, Anklagen, Forderungen treibt der ukrainische Botschafter die deutschen Politiker vor sich her und setzt sie unter Rechtfertigungs- und Erklärungsdruck. Er nutzt die Talkshow-Öffentlichkeit, um Bundesminister zu kompromittieren und sie der Lüge zu bezichtigen. Via Twitter höhnt er über Ministerpräsidenten, weil sie der Ukraine keine Panzer liefern und über Rußland kein Gasembargo verhängen, sondern „weiter mit (i)hrem Kumpelchen Putin kuscheln“ wollen. Den Kanzler hatte er im Befehlston aufgefordert, den Russen endlich ein Ultimatum zu stellen und in einer Regierungserklärung darzulegen, „was genau die Ampel nun vorhat, um die Ukraine tatkräftig zu unterstützen“. 

Was auf den ersten Blick wie das destruktive Walten des Elefanten im Porzellanladen aussieht, erweist sich unterm Strich als höchst effektiv. Der 46jährige Melnyk ist ein Profi im diplomatischen Geschäft. Der studierte Jurist trat 1997 in den diplomatischen Dienst der Ukraine ein. Von 1999 bis 2003 bekleidete er hohe Posten in der Botschaft in Österreich, war später im  Präsidialamt und im Kiewer Außenministerium sowie von 2007 bis 2012 als Generalkonsul in Hamburg  tätig. Seit 2015 ist er Botschafter in Berlin.

Die Ukraine befindet sich in einer verzweifelten Lage. Das Verständnis für ihren Botschafter, wenn er die diplomatischen Regeln übertritt, ist groß. Die Wohlwollenden – das sind in den deutschen Medien die allermeisten – nennen ihn „undiplomatisch“, „kämpferisch“, einen „Botschafter mit Außenwirkung“. Doch inzwischen muß man sich klarmachen, daß es sich bei seinen Verbalattacken um keine spontanen Eruptionen, sondern um ein strategisches Verfahren handelt, das auf die direkte Einflußnahme und auf eine grundsätzliche Umcodierung der deutschen Außenpolitik abzielt.

Verbaler Frontalangriff auf Bundespräsident Steinmeier

Die Brüskierung des Bundespräsidenten, der zu einem Ukraine-Benefiz-Konzert ins Schloß Bellevue geladen hatte, markierte einen Qualitätssprung. Es sei eine „Provokation“, dem ukrainischen Vertreter die Teilnahme eines russischen Pianisten und eines russischen Bariton zuzumuten, begründete er seine Absage in der FAZ. „Uns kann es jetzt nicht darum gehen, zwischen bösen Russen und guten Russen zu unterscheiden.“

Er beließ es nicht bei diesem vordergründig emotionalen, in Wahrheit wohlkalkulierten Ausbruch. Er war die Ouvertüre zu einem Frontalangriff auf Steinmeier. Der habe während seiner Amtszeit als Außenminister ein „Spinnennetz der Kontakte“ zu Rußland geknüpft, das jetzt in der Regierung weiterwirke. Mit der Behauptung, „Steinmeier scheint den Gedanken zu teilen, daß die Ukrainer eigentlich kein Subjekt sind“, unterstellte er ihm eine gedankliche und politische Nähe zu Putin.

Über Frank-Walter Steinmeier ist schon alles gesagt: Er ist ein Mann der Platitüden, der zu geistigen Höhenflügen weder ansetzt noch inspiriert; er ist die fleischgewordene Zeitgeist-Servilität. Doch hat auch er es nicht verdient, daß man Lügen und Gerüchte über ihn verbreitet. Zweitens geht es weniger um seine Person als vielmehr um das hochsymbolische Amt, das er innehat. Treffend konstatierte die Washington Post, Melnyks „Anklage“ richte sich „gegen die gesamte politische Klasse des Landes“.

Schon aus Gründen der Selbstachtung kann kein Land es sich gefallen lassen, daß ein Botschafter dem Staatsoberhaupt, dem er sein Akkreditierungsschreiben überreicht hat, anschließend eine Narrenkappe überstülpt und ihn am Halsband durch die Arena zieht. Eine Einbestellung ins Auswärtige Amt und die Aufforderung, sich künftig zu mäßigen, andernfalls er zur unerwünschten Person erklärt würde, wäre als mindeste Reaktion zu erwarten.

Doch in der Bundesrepublik gehen die Uhren anders, das hat Melnyk völlig richtig eingeschätzt. Obwohl er für viele Politiker längst ein rotes Tuch darstellt, erfolgte lediglich eine windelweiche Zurückweisung durch den Regierungssprecher. Und Steinmeier? Der warf seine Gebetsmühle an und ließ die altvertraute Mea-culpa-Melodie ertönen: Zerknirscht verwarf er die deutsche Rußlandpolitik der letzten Jahre als einen einzigen großen Irrtum. „Mein Festhalten an Nord Stream 2, das war eindeutig ein Fehler. Wir haben an Brücken festgehalten, an die Rußland nicht mehr geglaubt hat und vor denen unsere Partner uns gewarnt haben.“ Damit bestätigte er indirekt, daß der Ukraine-Krieg die Summe Putinscher Dämonie und deutscher Sonderwegs-Allüren ist.

Umgehend setzte Melnyk nach: Deutschland habe sich energiepolitisch „fast vollständig“ vom russischen Staat abhängig gemacht, was die Ukraine nun mit dem Leid ziviler Opfer ausbaden müsse. Es genüge nicht, daß der Bundespräsident „Reue“ zeige, dekretierte er im Hochgefühl seiner Hyperpräsidentschaft. „Für uns ist wichtig, daß jetzt diesen Aussagen Taten folgen, und diese Taten fehlen.“ Als erstes fordert er eine neue, umfassende Vergangenheitsbewältigung, in der die Deutschen ihre politischen Verfehlungen zum Gegenstand psychotherapeutischer Sitzungen machen: „Wir glauben, daß das, was in den letzten über zwei Jahrzehnten hier in Deutschland geschehen ist, dringend aufgearbeitet werden muß, und zwar nicht nur politisch, sondern auch auf der Ebene der Gesellschaft und der Medien.“ Als nächster Schritt steht tätige Reue an: „Mit einer EU-Mitgliedsperspektive könnte Deutschland alles wiedergutmachen, was in bezug auf die Ukraine schiefgelaufen ist.“

Melnyk wirkt so stark, weil Deutschland so schwach ist. Der Geradlinigkeit, mit der er seine Interessen geltend macht, entspricht die geistig-moralische Gebrochenheit auf deutscher Seite. Die großen Medien machen sich ausdrücklich zum Sprachrohr seiner Übergriffigkeit und preisen sie als Ausdruck höherer politischer Vernunft. „Der Chef der Opposition heißt Melnyk“, titelte völlig unironisch die Frankfurter Allgemeine vorige Woche in einem außenpolitischen Kommentar und gab ihm in Form und Inhalt recht: Er, Melnyk, „nimmt sich heraus, die höchsten Repräsentanten des deutschen Staates völlig undiplomatisch zu beschimpfen. So kann es gehen, wenn man jahrelang die Augen vor der Realität verschließt.“ Noch toller als die „Zeitung für Deutschland“ gebärdet sich die Springer-Presse.

So wächst Melnyk in eine Rolle hinein, die der Sowjetbotschafter Pjotr Abrassimow von 1962 bis 1983 in der DDR spielte. Als 1970 der Machtkampf zwischen dem alten SED-Chef Walter Ulbricht und seinem „Kronprinzen“ Erich Honecker eskalierte und der Alte den Jungen aus dem innersten Machtzirkel verbannte, eilte dieser in die sowjetische Botschaft, um sich über seine Degradierung zu beschweren. Nach Rücksprache mit Parteichef Leonid Breschnew wies Botschafter Abrassimow Ulbricht an, den Genossen Honecker umgehend wieder in seine Funktionen einzusetzen. Ein Jahr später erfolgte der Machtwechsel.

Rückenwind und Lobrede aus Washington

Starken Rückenwind erhält Melnyk auch aus Übersee. Im Februar hatte die Washington Post bereits gejubelt, mit dem „Heldentum eines Selenskyi und der Schurkerei eines Putin“ sei „in Deutschland bereits eine Revolution ausgelöst“ worden. Anfang April erschien dort eine hagiographische Lobrede auf Melnyk und seine Aktivitäten. Er sei ein ukrainischer Zola, der den Deutschen sein „J’accuse ...!“ entgegenschleudere und sie unermüdlich daran erinnere, „daß sie ihrer historischen Verantwortung nicht gerecht werden, auf die sie sich ständig berufen – indem sie der Ukraine nicht genug Waffen schicken, weiterhin russisches Gas kaufen oder was auch immer“. Des weiteren enthält der Text eine Generalabrechnung mit Schröder, Merkel  und Steinmeier sowie ein kleines Lob für Scholz, der eine „neue Ära“ in der Rußlandpolitik ausgerufen habe.

Ein Volk existiert in der Sphäre des Politischen, solange es im extremen Fall zwischen Freund und Feind selbst bestimmt, heißt es bei Carl Schmitt. „Läßt es sich von einem Fremden vorschreiben, wer sein Feind ist und gegen wen es kämpfen darf oder nicht, so ist es kein politisch freies Volk mehr und einem anderen politischen System ein- oder untergeordnet.“

Das Verhältnis zwischen Honecker und Abrassimow galt übrigens bald als zerrüttet, weil der Botschafter sich noch immer aufführte „wie ein sowjetischer Hochkommissar“ (Günter Schabowski) und nicht akzeptierte, daß der SED-Chef sich auch als vollwertiges Staatsoberhaupt verstand. Honecker setzte schließlich in Moskau seine Ablösung durch.

Das waren noch Zeiten!

Foto: Andrij Melnyk, ukrainischer Botschafter in Deutschland: Längst ein rotes Tuch