© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/22 / 15. April 2022

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

In bezug auf einen zukünftigen Neutralitätsstatus der Ukraine wird gerne auf das finnische Beispiel hingewiesen, meistens unter Hinweis darauf, daß Finnland mit diesem Status selbst während des Kalten Krieges „gut gefahren“ sei. Dazu eine persönliche Erinnerung an einen Aufenthalt in einem kleinen Ort der Provinz Vakka-Suomi während der 1970er Jahre: Eingeprägt hat sich mir, wie gereizt die Menschen reagierten, wenn man von „Finnlandisierung“ im Sinne schleichender Unterwerfung unter die Macht des großen roten Nachbarn sprach, daß in der Kirche unter der Kanzel die gerahmte Urkunde hing, mit der Marschall Mannerheim während des Winterkriegs gegen die Sowjetunion von 1939/40 allen finnischen Müttern das Freiheitskreuz, die höchste zivile und militärische Auszeichnung der Republik, verliehen hatte, daß auf dem Friedhof der Gemeinde auch Grabsteine mit den Namen jener errichtet waren, deren Gebeine in den verlorenen karelischen Gebieten zurückgelassen werden mußten, und daß ein Sohn meiner Gastgeber nicht wußte, wie er seinen Eltern beibringen sollte, daß er – anders als seine Brüder – den Militärdienst verweigern wollte, wissend, daß das der ganzen Familie die Verachtung von Nachbarn und Bekannten einbringen würde.

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„Damit liegen wieder alle Voraussetzungen vor, die [Erich] Fromm und [Wilhelm] Reich für den massenpsychologischen Vormarsch von Autoritarismus und Faschismus genannt haben: eine starre Über-Ich-Bildung in der patriarchalen Familie, die Verstärkung dieses Über-Ichs durch gesellschaftliche Disziplinierung, die mangelnde sexuelle Befriedigung. Eine Strategie gegen rechts, die diesen massenpsychologischen Prägungen nicht Rechnung trägt, ist zum Scheitern verurteilt.“ (Jürgen Elsässer in einem Beitrag für die Zeitschrift Kursbuch, Dezember 1998, unter dem Titel „Der tendenzielle Fall der Orgasmusrate. Zur Massenpsychologie des Faschismus in den neuen Bundesländern“)

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Rechte lassen sich vorschnell von Bildern der Macht und der Ordnung beeindrucken, Linke von wortreichen Bekundungen der Humanität und der Toleranz.

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Die letzten ansehnlichen öffentlichen Gebäude im Elsaß und in Lothringen wurden dem Augenschein nach irgendwann zwischen 1871 und 1918 errichtet.

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„Ich glaube an die Macht. Die gibt es in Hell und in Dunkel.“ (Heiko Postel)

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Alan Posener hat den aufgeregten jungen Leuten, die das Herumlaufen von hellhäutigen Blondinen mit verfilzten Haaren für ein inakzeptables Merkmal „kultureller Aneignung“ halten, beruhigend zugeredet und ihnen erklärt, daß sie ja selbst permanent solch „kulturelle Aneignung“ praktizieren, wenn sie Jeans tragen oder Pop hören, Cola trinken oder Hamburger verzehren. Das ist zwar rührend, wird in woken Kreisen allerdings kaum Eindruck machen. Denn dort geht es – wie beim „Rassismus“ – nicht um die Sache an sich, sondern um die Generalrichtung. So wenig „Weißbrot“ oder „Kartoffel“ oder „Scheißdeutscher“ aus ihrer Sicht rassistisch ist, so wenig kann die Übernahme zivilisatorischer Hervorbringungen einer privilegierten Gruppe durch eine andere privilegierte Gruppe als kulturelle Aneignung kritisiert werden. Über den blinden Fleck der Anhänger dieser Weltanschauung braucht man kein Wort zu verlieren, auch nicht darüber, daß sie sich als Gefolgschaft einer „Paria-Elite“ betrachten – der PoC, Nicht-Hetero-Normalen etc. –, die ihre heutigen Vorrechte lediglich als Anzahlung auf ihren zukünftigen Status als Aristokratie der bunten Globalrepublik ansieht.

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Bildungsbericht in loser Folge: „Als Religionslehrer in der Schule kann man heute leicht die Erfahrung machen, daß bei den Schülern keinerlei Bibelkenntnis mehr vorauszusetzen ist. Im Gegenteil. Die Schüler gähnen gelangweilt, wenn man ihnen mit der Bibel kommt. Solche Langeweile liegt keineswegs nur an der Darbietung des Stoffes. Denn gerade jene Religionslehrer, denen man pädagogisches Talent und Kenntnis der verschiedenen Methoden nicht absprechen kann, behaupten, daß es mit einem Methodenwechsel im Religionsunterricht allein noch nicht getan ist. Offenbar hat ein radikaler, kaum bewußter Bruch mit der biblischen Tradition stattgefunden.“ (Wolfgang Teichert in einem Aufsatz zur Lage der evangelischen Theologie von 1976)

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Immer wieder schön: die junge Französin, die man höflich fragt, wie sie angesprochen werden möchte, ob als „Madame“ oder „Mademoiselle“, und die strahlend antwortet „Mademoiselle“ – „Fräulein“.

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„Der berühmte ‘Siegesmarschall’ Georgi Schukow formulierte es am deutlichsten: ‘Macht nichts. Russische Weiber werden noch mehr Soldaten gebären.’ Putin lehnte das Angebot des IKRK“, des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, „ab, die Leichen russischer Soldaten aus der Ukraine nach Rußland überzuführen. Das ist alles, was man über die Beziehungen zwischen der Macht und dem Fußvolk in meinem Land wissen muß.“ (Michail Schischkin in der Neuen Zürcher Zeitung)


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 29. April in der JF-Ausgabe 18/22.