© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/22 / 15. April 2022

Paradies für Patienten
Kino: Der Dokumentarfilm „Vier Sterne plus“ von Antje Schneider porträtiert einen visionären Klinikleiter
Dietmar Mehrens

Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, riet Helmut Schmidt. David-Ruben Thies (53) hat Visionen. Aber zum Arzt gehen muß er nicht. Er hat die Ärzte bei sich im Haus. Möglich immerhin, daß der eine oder andere aus der Ärzteschaft ihn am liebsten in Therapie schicken würde. Denn der Geschäftsführer der Waldkliniken Eisenberg möchte sie aus Patrizier-Büros mit eigener Vorzimmerdame in ein plebejisches Großraumbüro verfrachten und ihnen die Ärmel ihrer Kittel kürzen, weil langärmelige Arztkittel zwar Status symbolisieren, aber leider auch Keime übertragen.

Ein Pars pro toto, das zeigt, wieviel im deutschen Gesundheitssystem im argen liegt: Jedes achte der etwa 2.000 Krankenhäuser hierzulande ist von Insolvenz bedroht. Vierzig Prozent der Spitäler sind defizitär. Im urbanen Raum gibt es eine Über-, im ländlichen eine Unterversorgung. Das sind die Daten und Fakten, die Antje Schneider an den Anfang ihrer Dokumentation stellt. Doch die „Leidenschaft“ seiner Kollegen, darüber zu jammern und „sich stundenlang in Larmoyanz zu verlieren“, war dem gelernten Krankenpfleger Thies zu unproduktiv. Er wollte etwas verändern.

Auszeichnung als „bestes Krankenhaus Deutschlands“

Sein Traum: ein Krankenhaus, in dem sich die Patienten, ach was: die Gäste, so wohl fühlen, daß sie am liebsten gar nicht wieder nach Hause wollen, in dem es nicht nach Sterillium und Bacillol riecht, sondern nach Holzvertäfelung, Ledersesseln und Zigarren. Als Geschäftsführer einer orthopädischen Fachklinik in der Nähe von Jena hat sich Thies an die Verwirklichung seines Traums vom Vier-Sterne-Hotelkrankenhaus für alle gemacht. 2020 wurde der Neubau nach sechs Jahren Bauzeit eröffnet. 2021 wurden die Waldkliniken Eisenberg als „bestes Krankenhaus Deutschlands“ ausgezeichnet.

Schneider hat bereits eine Reihe von Dokumentationen für das ZDF und den MDR angefertigt. Die studierte Betriebswirtin aus Leipzig sah in der Idee ihres Protagonisten einen Filmstoff voller „wertvoller Spannungsfelder“. Sie erläutert: „David ist ein Getriebener seiner Ideale, voller Euphorie.“ Und die Regisseurin weiß um die Brisanz ihres Themas: „Die Mißstände in unserem Gesundheitssystem stehen nicht erst seit der Pandemie im Zentrum der Aufmerksamkeit.“

Der rührige Klinik-CEO ist ständig auf Achse und die Kamera immer mit dabei: In Holland läßt er sich zum Thema Effizienz beraten, in Luzern inspirieren von Star-Architekt Matteo Thun und in Vietnam von einer Delegation des Landes Thüringen mit auf die Pirsch nehmen nach Anästhesisten, einem knappen Gut in der Branche. Das von Thies durch sein unwiderstehliches Engagement ins Gespräch gebrachte Projekt Patientenhotel lockt wie Motten das Licht Profilneurotiker wie Ex-Gesundheitsminister Spahn und Thüringens Ministerpräsidenten Bodo Ramelow an, deren schale Wortbeiträge Schneider geschickt in Kontrast setzt zu dem ununterbrochen fließenden Herzblut des Visionärs. Sie wirken blaß im Vergleich zu dem leidenschaftlichen und unermüdlichen Sisyphos.

Herzstück seines Konzeptes ist die „Unit“-Struktur. Thies hat ermittelt, daß ein Patient in einem konventionell geführten Krankenhaus während einer mehrwöchigen Behandlung bis zu 72 unterschiedliche Personen kennenlernt. Die Pflegeeinheiten, die ihm vorschweben, sind dagegen einem kleineren Gästekreis dauerhaft zugeordnet. So entstehen engere soziale Bindungen, die den Genesungsprozeß der Patienten begünstigen und das Streßniveau der Pflegekräfte senken.

Nicht fehlen darf natürlich ein Kapitel zur Covid-Seuche, die während der Dreharbeiten auch die Eisenberg-Kliniken lahmlegte. Ohne anzuklagen, entlarvt der Film das Versagen der Politik:  abgesagte Behandlungen, verwaiste Betten, freigehalten für Beatmungsnotfälle. Aber: „Die Welle kam nicht“, so die nüchterne Bilanz.

Antje Schneider legt den Finger in die Wunde: Das deutsche Gesundheitssystem ist selbst der Patient. Daß die Regisseurin bei allem Ernst der von ihr unter die Lupe genommenen Lage auch Sinn für Ironie hat, beweisen die vielen privaten Momente, mit denen sie ihren Film auflockert: Sie zeigen den Mann, der sich so um die Verbesserung der Gesundheitsfürsorge verdient gemacht hat, dauernd beim Rauchen.

Kinostart ist am 14. April 

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Foto: David-Ruben Thies, Geschäftsführer der Waldkliniken Eisenberg: Das Versagen der Politik entlarvt