© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/22 / 15. April 2022

Eine gute Portion Romantik
Vor hundert Jahren näherten sich das Deutsche Reich und Sowjetrußland in Rapallo an
Stefan Scheil

Walther Rathenau hatte gegen seinen Willen eine Entscheidung zu treffen und befand sich in entsprechend angespannter Stimmung. Da man gerade das Osterfest feierte, griff der amtierende deutsche Außenminister die düstere Seite dieses Mysteriums auf und meinte: „Der Wein ist angerichtet, nun muß er auch getrunken werden.“ So sprach er und schritt danach zur Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Vertrags von Rapallo, am 16. April 1922. In der Tat schienen damals Fragen von Leben, Tod und Wiederaufstieg in der Luft zu liegen.

Immerhin ging es in diesen Tagen vor hundert Jahren zumindest vordergründig um einen zaghaften Anlauf, den Ersten Weltkrieg endlich mit vernünftigen Abmachungen auf Augenhöhe zu beenden. Dafür war die Weltpolitik am Mittelmeer zu einer Konferenz zusammengekommen, nicht in Rapallo selbst, sondern im benachbarten Genua. Und zum ersten Mal nahmen auch die beiden großen Aussätzigen der internationalen Szene am Treffen teil, das seit 1917 sowjetisierte Rußland und das seit 1918 republikanisch verfaßte Deutsche Reich.

Polen war sowohl Deutschen als auch Sowjets ein Dorn im Auge

Formal gesehen ging es in Genua vor allem um eine allzeit bedeutsame Frage, nämlich um das Geld. Den Siegermächten hatte es 1919 bekanntlich gefallen, den finanziellen Gesamtschaden des Weltkrieges im Versailler Vertrag auf Deutschland abzuladen. Zugleich sprachen sie eine stehende Einladung an Sowjetrußland aus, diesen Abmachungen beizutreten. Deutschland hätte für diesen Fall auch noch jene Schulden auf dem Konto gehabt, die Rußland vor 1914 für die Vorbereitung seines Angriffskrieges gegen Deutschland aufgehäuft hatte, damals vor allem in Form von Krediten aus Frankreich. So ein Schritt schien den westlichen Geldgebern 1922 die einzige Möglichkeit zu sein, ihr Geld wiederzusehen.

Daraus sollte nichts werden, denn der „Westen“ hatte den Bogen für dieses Mal überspannt. Die sowjetischen Machthaber wußten aus erster Hand über die Machenschaften sowohl der westlichen, wie auch der eigenen russischen Vorläuferregierungen im Vorfeld des Kriegsbeginns von 1914 Bescheid. Lenin und Genossen sahen keinen Sinn darin, der anderslautenden Märchengeschichte einer alleinigen deutschen Kriegsverantwortung durch den Beitritt zu „Versailles“ Glaubwürdigkeit zu verleihen. Zwar wollten die Sowjets gerne wieder am westlichen Kapitalmarkt einsteigen, aber nicht zu diesem politischen Preis.

Da schien das Angebot aus Berlin doch eine wesentlich günstigere Gelegenheit zu sein, finanziell wie eben auch politisch. Schließlich lief die deutsch-sowjetische Zusammenarbeit hinter den Kulissen bereits nicht schlecht. So gut hatten sich diese Kontakte entwickelt, daß in Deutschland bei Teilen der Reichswehrführung und Wirtschaft und Gesellschaft von einer aktiven sowjetisch-deutschen Zusammenarbeit bei der Überwindung der Versailler Vertragsbestimmungen geträumt wurde. Allen voran stand einmal mehr die Republik Polen im Fokus, deren Existenz nicht nur in deutschen Militärkreisen vielen ein Dorn im Auge war. Auch in Moskau konnte man sich vorstellen, Polen demnächst als neue Sowjetrepublik zu begrüßen.

Noch heute ist aber bemerkenswert, wie wenig über den tatsächlichen Gang der deutsch-russischen Verhandlungen bekannt ist und wie wenig auch darüber, welche Personen auf beiden Seiten die Initiative ergriffen haben. Zur Zeit der Verhandlungen herrschte absolute Geheimhaltungsstufe. Aufzeichnungen wurden kaum angefertigt oder liegen noch heute schwer zugänglich in Moskauer Archiven. Die Rapallo-Linie der deutschen Außenpolitik konnte vor lauter Geheimhaltung kaum laufen.

Sicher ist zum Beispiel, daß Außenminister Wal-ther Rathenau vom Stand der Dinge völlig überrascht wurde, als er an der Mittelmeerküste eintraf. Sein Ziel war es bei der Ankunft, möglichst fruchtbare Gespräche mit den Westmächten zu führen, und nicht, diese Mächte mit einem Schwenk nach Osten vor den Kopf zu stoßen. 

Der in Genua ebenfalls anwesende Reichskanzler Joesph Wirth und die ihn begleitenden Repräsentanten der Reichswehr hatten jedoch Tatsachen geschaffen. Ihnen lag vor allem an den informellen Beziehungen mit dem revolutionären Rußland, von denen man sich im Rahmen der „Schwarzen Reichswehr“ die militärische Zusammenarbeit in jenen Bereichen versprach, die Deutschland eigentlich durch den Versailler Vertrag verboten waren, der Fliegerei etwa, oder auch dem Umgang mit gepanzerten Fahrzeugen. Zugleich hegte die Reichswehrführung und hier im Zentrum deren Chef Hans von Seeckt den etwas kuriosen Traum, mit der Rückendeckung und dem Beistand Sowjetrußlands die Verhältnisse in Osteuropa wieder umzukehren. Namentlich die Republik Polen gehörte zu Seeckts Zielen. Er konnte Polen den Griff nach Westpreußen und Schlesien sowie dessen Bündnis mit Frankreich nicht verzeihen. Der ebenfalls im Bund mit Frankreich lange vorbereitete und einigermaßen hinterhältig vorgetragene russische Angriff mit seinen Verheerungen in Ostpreußen des Jahres 1914 spielte in seiner Gedankenwelt dagegen keine vergleichbare Rolle.

Maßgebliche Ansprechpartner der Sowjets saßen in London und Paris

Jenseits der naheliegenden Gründe in Form von Geld, Fliegern und gepanzerten Fahrzeugen dürfte dem Rapallo-Vertrag denn auch eine gute Portion Romantik zugrunde gelegen haben. Die deutsche Außenpolitik hat sich immer wieder vom „Osten“ locken lassen und von der Aussicht, den ganzen russischen Kontinent bis Wladiwostok zum Freund zu haben, oder wenigstens nicht zum Feind. So schön diese Aussichten gewesen wären, so sehr überschätzten sie doch die Rolle, die Deutschland aus dem Blickwinkel russischer und sowjetischer Planungen stets zugedacht war. Viel mehr als ein nützlicher Unruhestifter sollte Berlin dabei nicht sein, die maßgebenden Ansprechpartner saßen aus russischer Sicht immer eher in London und Paris, bald darauf auch in Washington. 

Das hatte auch Walther Rathenau so gesehen und den „Rapallo“-Abmachungen keineswegs die legendäre Bedeutung eines möglichen deutsch-russischen Bündnisvorvertrags zugewiesen, die sie für Joseph Wirth oder Hans von Seeckt haben sollten. Rathenau mußte den Wein daher trotz „Rapallo“ persönlich bis zur Neige trinken. Sein Ruf, zu viel Verständnis für den Westen zu haben und gar so etwas wie „Erfüllungspolitiker“ zu sein, kostete ihn nur zwei Monate später das Leben. Am 24. Juni 1922 erschoß ihn ein Attentäter aus den Reihen der nationalen Rechten. 

Foto: Reichskanzler Joseph Wirth (2.v.l.) spricht mit dem sowjetischen Volkskommissar des Äußeren Grigorij Tschitscherin (2. v.r.) und dem Trotzki-Vertrauten Adolf Joffe (r.), Genua 1922: Absolute Geheimhaltungsstufe