© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/22 / 15. April 2022

Die mysteriöse Flucht aus der Sächsischen Bastille
1942 entkam der französische General Henri Giraud, späterer Gegenspieler de Gaulles, aus deutscher Kriegsgefangenschaft
Thomas Schäfer

Die Festung Königstein auf einem 240 Meter hoch über der Elbe gelegenen Felsplateau im Herzen der Sächsischen Schweiz wurde niemals eingenommen. Gleichzeitig galt sie auch als absolut ausbruchssicheres Gefängnis – bis dem französischen Général d’armée Henri Honoré Giraud während des Zweiten Weltkriegs die Flucht aus der „Sächsischen Bastille“ gelang. Wobei nach wie vor unklar ist, ob der deutsche Auslandsgeheimdienst wollte, daß der spätere Gegenspieler von Charles de Gaulle entkam. Denn die Details seines Ausbruchs und der nachfolgenden Absetzbewegung nach Vichy-Frankreich muten reichlich mysteriös an.

Giraud fungierte als Chef der 9. Armee, als er am 19. Mai 1940 bei Wassigny in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet. Danach folgte am 25. Mai die Internierung im Offiziersgefangenenlager IV B auf der Festung Königstein, wo noch 97 andere hohe französische Militärs einsaßen. Hier erhielt Giraud regelmäßig Lebensmittelpakete von seiner Frau, in denen sich unter anderem – eingelötet in Konservendosen – Material für die Anfertigung eines 50 Meter langen und 15 Millimeter dicken Seils mit Kupferdrahtverstärkung sowie ein Tirolerhut befunden haben sollen. Außerdem behaupten die Quellen, daß der General lernte, akzentfrei Deutsch zu sprechen und durch den Verkauf von Schokolade oder Zigaretten etwa 800 Reichsmark einsammeln konnte.

Nach der morgendlichen Zählung der Gefangenen seitens der Wachmannschaft der 2. Kompanie des Landschützenbataillons Nr. 393 wurde der 63 Jahre alte und nicht sonderlich sportliche Giraud dann angeblich am 17. April 1942 gegen zehn Uhr von Général de division Gustave Mesny und Général de brigade Paulin André Jean Le Bleu innerhalb von zwei Minuten über die 40 Meter hohe Festungsmauer zum Patrouillenweg am Fuß der Anlage hinabgelassen. Wer die vermeintliche Ausbruchsstelle zwischen der sogenannten Königsnase und dem Blitzeichenplateau kennt, fragt sich unwillkürlich, wieso Giraud für seine Flucht gerade diese besonders glatte und auch noch gut von zwei umliegenden Ortschaften aus einsehbare Wandpartie wählte, wo es doch wesentlich weniger riskante Alternativen gab. Immerhin durfte der General „auf Ehrenwort“ unbegleitete Tagesausflüge in die Sächsische Schweiz unternehmen, wie Fotos aus dieser Zeit belegen!

Doch damit noch nicht genug der Merkwürdigkeiten: Nach dem Abseilmanöver soll Giraud dann in Bad Schandau mit dem britischen Special-Operations-Executive-Agenten Roger Gerlach zusammengetroffen sein und von diesem Ausweispapiere auf den Namen Heinrich Greiner erhalten haben, woraufhin er bis zum 22. April unbehelligt 800 Kilometer mit der Eisenbahn durch Deutschland reiste, obgleich seine Flucht bereits beim Zählappell am Abend des 17. April bemerkt worden war. Danach hatte der Chef der Sipo und des SD, Reinhard Heydrich, sogleich 100.000 Mark Kopfgeld auf Giraud ausgesetzt und Such-trupps der SS, des Sicherheitsdienstes, der SA, der Polizei und der Wehrmacht sowie auch des NSKK, der Feuerwehr, des Forstschutzes und der Hitlerjugend mobilisiert, um den Flüchtigen zu stellen. Gleichzeitig konzentrierte sich die Fahndung aber seltsamerweise auf einige Gebiete am Bodensee, während Giraud am 22. April bei Liebsdorf im Elsaß über die Grenze zur Schweiz wechselte. Anschließend wurde er vom Chef des Militärischen Nachrichtendienstes der Eidgenossenschaft, Roger Masson, in Empfang genommen, der eng mit dem Auslands-Sicherheitsdienst der SS kooperierte und für die alsbaldige Überstellung des Generals in die unbesetzte Zone Frankreichs sorgte.

Dort verursachte Giraud einen heftigen Wirbel, weil er sich weigerte, freiwillig nach Deutschland zurückzukehren, um die geplante Freilassung von 200.000 anderen französischen Kriegsgefangenen nicht zu gefährden. Ebensowenig wollte der General mit der Vichy-Regierung oder der Widerstandsbewegung zusammenarbeiten. Statt dessen avancierte er nachfolgend zur Leitfigur der Giraudisten, welche sowohl gegen die Führung des mit Deutschland kollaborierenden État français als auch gegen das aus dem Londoner Exil zum Befreiungskampf blasende Comité national français unter dem Général de brigade Charles de Gaulle opponierten. Das wiederum machte ihn für Roosevelt und Churchill interessant, die kein sonderlich gutes Verhältnis zu de Gaulle pflegten und schließlich dafür sorgten, daß Giraud im Anschluß an die alliierte Invasion in Nordafrika das Kommando über die französischen Land- und Luftstreitkräfte dort erhielt und nach der Ermordung des Hochkommissars von Französisch Nord- und Westafrika, Admiral de la flotte François Darlan, im Dezember 1942 zugleich noch zu dessen Nachfolger aufstieg.

Girauds Vichy-Kontakte nutzte de Gaulle zur Intrige gegen ihn

In dieser Eigenschaft setzte Giraud die vom Vichy-Regime erlassenen und oft von den Nationalsozialisten inspirierten Gesetze in Nordafrika weiter um, was ihm die erbitterte Gegnerschaft de Gaulles eintrug. Dann freilich gab der General seine bisherige Politik auf und fungierte von Juni bis November 1943 gemeinsam mit de Gaulle als gleichberechtigter Co-Präsident des Comité français de libération nationale (CFLN). Dieses Amt verlor er, weil er die Rückeroberung Korsikas angeordnet hatte, ohne das CFLN einzubeziehen. Anschließend nutzte de Gaulle sein Wissen über die Kontakte Girauds zum Vichy-Geheimdienst Service de Sécurité Militaire (SSM), um den Ranghöheren auch zur Aufgabe des Postens als Oberbefehlshaber zu nötigen.

Nach dem Krieg wurde Giraud im Juni 1946 für den Parti républicain de la liberté (PRL) in die Verfassunggebende Versammlung der Vierten Republik gewählt. Er starb am 11. März 1949 in Dijon.