© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/22 / 15. April 2022

Radikale linksgrüne Positionen
Agitation gegen „Zwangsjacke des Wachstumsimperativs“ / Klimapolitik ohne soziale Gerechtigkeit wird scheitern
Christoph Keller

Die Bonner Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), die „mündigen Bürgern“ aktuelle gesellschaftliche Probleme auf wissenschaftlichem Niveau vermitteln soll, segelt seit 22 Jahren stromlinienförmig im Zeitgeist. Damals wurde der Theologe und linke SPD-Politiker Thomas Krüger Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB), der keine „Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte“ erkennt, aber ApuZ-Themenhefte über „Schwarz und Deutsch“ (12/22) „Geschlechtergerechte Sprache“ (5-7/22) oder „Rausch und Drogen“ (49-50/20) für unverzichtbar hält. Und unter dem Druck der „globalen Klimakatastrophe“ öffnet sich das BPB-Hausblatt sogar zunehmend radikalen Theoretikern, die bezweifeln, ob sich Demokratie und Marktwirtschaft dazu eignen, den „menschengemachten“ Weltuntergang zu stoppen.

Im Doppelheft „Green New Deals“ (3-4/22) wird aufgezeigt, daß der ökologische Umbau erst begonnen habe und brutale Auseinandersetzungen darüber, wer dessen Kosten zu schultern hat, dem Wirtschaftsstandort Deutschland erst bevorstünden. So ist denn auch Klimagerechtigkeit für den Industriesoziologen Klaus Dörre (Universität Jena) primär ein innergesellschaftliches Problem, also eine „Klassenfrage“. Woraus der Mitgründer des linken Instituts Solidarische Moderne (ISM) ableitet, daß der „Kampf gegen Klimawandel und ökologische Zerstörung“ stets auch einer zugunsten der Armen und Benachteiligten sei.

„Ein gewaltiger Bremsklotz für ökologische Nachhaltigkeitsziele“

Ohne die Lösung der durch die globalisierte neoliberale Billiglohnökonomie verschärfte soziale Frage gebe es keine Lösung der ökologischen Frage. Klimawandel und Ressourcenverschwendung könne nur Einhalt geboten werden, sofern im Einklang mit diesen Zielen „egalitäre Verteilungsverhältnisse“ gefördert würden, die den ökologischen Umbau mittels sozialer Nachhaltigkeit stützen und voranbringen. Würden die mit „grüner“ Politik verknüpften herben Ungleichheiten nicht beseitigt, könnten sie „als gewaltiger Bremsklotz für ökologische Nachhaltigkeitsziele wirken“.

Was Wachstumskritiker längst erkannt haben, an deren sozialkritisches Zahlenwerk Dörre erinnert. Demnach sei es die Gesamtbevölkerung der reichen Industriestaaten des Nordens, die zu jenem Zehntel der Weltbevölkerung zähle, das angeblich die Hälfte der weltweiten Treibhausgasemissionen verursache. Innerhalb dieser „Klimasünder“ bestehe jedoch ein steiles Verantwortungsgefälle: Die einkommensstärksten zehn Prozent der EU-Haushalte erzeugten 27 Prozent der schädlichen Emissionen, während 50 Prozent, die einkommensschwache untere Hälfte, nur 26 Prozent der klimaschädlichen Gase produziere.

Allein das reichste Prozent der EU-Bürger verzeichne einen jährlichen Pro-Kopf-Ausstoß von angeblich 55 Tonnen CO2, also mehr als das Siebenfache des EU-Durchschnittswerts. Hauptgrund sei das Fliegen. Beim einkommensstärksten Prozent, rechnet Dörre vor, gehen 40 Prozent der Emissionen auf das Konto ihrer Flugreisen, nur 21 Prozent auf das ihrer Pkw-Nutzung. Und „geflogen wird nahezu ausschließlich vom oberen Dezil der Haushalte mit einem jährlichen Nettoeinkommen von 40.000 Euro“. Daß die irische Billiglinie Ryanair mit jährlich über 150 Millionen Reisenden in Vor-Corona-Zeiten die größte EU-Fluggesellschaft war, verrät Dörre nicht.

Deutschland (7,69 Tonnen pro Kopf 2020), Südafrika (7,62) und China (7,41) liegen auf etwa dem gleichem „CO2-Niveau“ wie der Iran (8,87). Das Kanada (14,2), die USA (14,24) oder das Erdgasemirat Katar (37,02) klar darüber. Um die „Klimaziele“ zu erreichen, müßte der Pro-Kopf-Ausstoß aber auf 2,5 Tonnen jährlich sinken – das Niveau von Armenhäusern wie Vietnam, Jamaika, Jordanien oder Tunesien. Woraus für Dörre folgt, daß zwar alle ihren Lebensstil radikal ändern müssen, der Veränderungsdruck die „oberen Zehntausend“ jedoch mit am härtesten treffen müßte: „Nur weil Personen mit ‘kleinen Geldbörsen’ ihren Gürtel wegen sinkender Einkommen und steigender Preise enger schnallen müssen, sind die verschwenderischen Lebensstile der oberen Klassen überhaupt noch möglich.“

In Deutschland entfielen auf die reichsten zehn Prozent der Haushalte 26 Prozent der Emissionslast. Das reichste Prozent der Haushalte habe von 1990 bis 2015 gar „nichts“ eingespart, während die Einkommensschwachen ihre Emissionen um ein Drittel, die mittleren Einkommen immerhin um zwölf Prozent reduzierten. Das paßt: So wird das deutsche Aushängeschild von „Fridays for Future“, das Grünen-Mitglied Luisa Neubauer (verwandt mit der schwerreichen Hamburger Reemtsma-Familie), wegen ihrer einstigen Weltreisen gern „Langstrecken-Luisa“ genannt. Und Parteifreundin Katharina Schulze jettete 2018/19 in den Winterurlaub ins sonnige Kalifornien, denn „wo und mit wem ich meinen Urlaub verbringe, ist meine Privatsache“, erklärte die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bayerischen Landtag im Focus. Zudem habe sie „zwei tolle Fahrräder, aber kein Auto“.

Dörre, der 2021 eine Streitschrift über „Die Utopie des Sozialismus. Kompaß für eine Nachhaltigkeitsrevolution“ publizierte, ist da konsequenter. Um aus dem „Zangengriff von Ökonomie und Ökologie“ herauszukommen, gelte es sich von der „Basisregel kapitalistischer Marktwirtschaften“ zu verabschieden: dem „Zwang zu unendlicher Akkumulation und fortwährenden raschen Wirtschaftswachstums“. Die vielbeschworene „Große Transformation“ sei nur zu verwirklichen durch eine „fundamentale Veränderung etablierter Produktions- und Lebensweisen“. Dafür, so wendet die emeritierte Berliner Politikwissenschaftlerin Birgit Mahnkopf, die Grande Dame der deutschen Globalisierungskritik, in ihrem Beitrag „Der große (Selbst-)Betrug“ ein, reiche der „Green Deal“ der EU bei weitem nicht aus. Kommissionschefin Ursula von der Leyen habe offenbar die „epochale Herausforderung“ nicht begriffen, die darin liege, den „gesamten Entwicklungspfad der bisherigen menschlichen Zivilisation“ auf den Prüfstand zu stellen. Denn das EU-Ziel – Klimaneutralität durch grünes Wachstum – beschleunige zwar die Entwicklung effizienzsteigernder Produktionsverfahren, aber die alte Wachstumsideologie stehe für sie genausowenig zur Disposition wie das Privateigentum an Produktionsmitteln.

Umverteilung des akkumulierten monetären Reichtums?

Ginge es wirklich um das Gemeinwohl und die Bewahrung der ökologischen Lebensgrundlagen statt nur um eine farblich passende Verkleidung eines „Deals“, wären eigentlich „radikal anmutende Maßnahmen alternativlos“. Was für Mahnkopf heißt, endlich die Notbremse zu ziehen, um den angeblich rasend auf den Abgrund zusteuernden „Zug der globalisierten kapitalistischen Marktgesellschaft“ zum Halten zu bringen. Doch die EU-Kommission sei in der „Zwangsjacke des Wachstumsimperativs“ gefesselt und offensichtlich unfähig, den kapitalistischen Kräften der Beharrung Paroli zu bieten.

Um die versprochene sozial-ökologische Wende, die ihren Namen verdiene und mehr sein soll als grüner Etikettenschwindel, ins Werk zu setzen, sei als erster kühner Schritt die Umverteilung des akkumulierten monetären Reichtums zu wagen. Damit sei die unumgängliche Verkleinerung des ökologischen Fußabdrucks und des ökonomischen Wachstums verbunden. Mahnkopf kalkuliert dabei mit einer Reduktion des globalen Ressourcenverbrauchs „um mindestens zwei Drittel“. Es ist allerdings naiv, zu glauben, daß dies nicht ausgerechnet diejenigen mit aller Härte trifft, die den geringeren Anteil an den „desaströsen Folgen“ des Klimawandels zu verantworten haben.

Der „europäische Grüne Deal“ der EU:

 ec.europa.eu

 www.bpb.de