© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/22 / 15. April 2022

Der goldene Biß
Das Schaf und sein Hirte
Martina Meckelein

Wir Menschen urteilen so gern über das Verhalten der Tiere und belegen sie mit entsprechenden Adjektiven, wie „feiger Hund“ oder „blödes Schaf“! Nicht allzu charmante Begriffe, die übrigens mehr über uns selbst als über die Tiere aussagen. Dabei begleitet uns das Schaf seit Jahrtausenden. Es war Sinnbild des Wohlstands und ihm wurden gerade in Flandern, dessen Wolltuche berühmt waren, in Öl Denkmäler gemalt. Und heute? Wie steht es um das Schaf, das sogar als Lamm Gottes zum Sinnbild des Erlösers geworden ist? Lassen wir doch jemanden zu Wort kommen, der ein Experte in Sachen Ovis aries, unseres Hausschafes, ist.

„Nein“, sagt Ingo Stoll (63), „Schafe sind nicht im geringsten blöd, sie sind eigentlich sehr schlau.“ Stoll ist seit 40 Jahren Berufsschäfer und seit 1992 selbständig. „Wir müssen sie nur beim Fressen beobachten. Die Tiere selektieren sehr genau die Pflanzen. Sie sind sehr neugierig und auch vorsichtig.“ Wenn er über seine Schafe spricht, hört man nicht nur Begeisterung, sondern echte Bewunderung für diese Tiere aus seinen Worten. „Wir sprechen schließlich nicht umsonst über den goldenen Tritt und den goldenen Biß der Schafe“, sagt Stoll.

 Ganz bewußt habe er sich als junger Mann für die Schäferei entschieden. „Die Kühe waren mir zu groß“, lacht Stoll, „und die Schweine – Entschuldigung – aber sie riechen doch sehr intensiv. Schafe dagegen sind handlich und wollig.“

Rund 1.400 Tiere der Rasse Suffolk, ein Fleischschaf aus England, gehören Stoll. Die Schafe leben in drei Mutterherden und beweiden in Mecklenburg-Vorpommern 240 Hektar, verteilt auf 26 Solarparks. Gerade ist wieder Lammzeit, „Erntezeit“, wie Stoll es nennt. Da sind er, seine Frau und die Mitarbeiter rund um die Uhr bei den Tieren. Über 1.000 Lämmer bringen seine drei Mutterherden pro Jahr zur Welt. Nach acht Monaten gehen die Lämmer auf ihre letzte Reise. Rund 4.000 Tonnen Schaffleisch werden pro Jahr in der deutschen Fleischverarbeitung produziert, informiert das Statistische Bundesamt, für die deutschen Schlachthöfe ein Nischenprodukt. Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von Schaf- und Ziegenfleisch beläuft sich auf durchschnittlich rund 700 Gramm.

In Deutschland leben immer weniger Schafe 

Ingo Stoll hat gerade seine Tiere an einen Schlachthof nach Berlin geliefert. „Denn wir haben hier keine Großschlachtereien mehr. Unsere kleinen Schlachtereien können am Tag fünf Tiere schlachten und verarbeiten – mehr nicht. Wir sind gezwungen, mit den Tieren auf längere Transporte zu gehen, manchmal sogar nach Süddeutschland oder Frankreich.“ Wobei, das sagt Stoll zudem, ausschlaggebend ist eben auch der Preis. „In Frankreich kann man für Lämmer bis zu 80 Cent mehr pro Kilo erzielen als in Deutschland.“ Allerdings bevorzugten die leichtere und kleinere Tiere. „Das ist für uns unrentabler, denn Lämmer nehmen je älter sie sind, desto mehr an Gewicht zu.“ Stoll verkauft daher gerne Lämmer mit einem Gewicht um die 45 Kilogramm. Bei ihm leben sie unter dem weiten Himmel Norddeutschlands. Im Herbst gibt es ökologische Zwischenfrüchte.

„Das ist Ackerland, das der Bauer laut EU-Stillegungsprogramm eine Zeitlang mit einer bestimmten Saatmischung begrünen muß. Die gesäten Pflanzen nehmen überschüssigen Stickstoff aus dem Boden auf, und es gibt keine Wind- und Wassererosionen. Dieses Grünland beweiden dann meine Schafe. Da sie die Pflanzen am Stengelansatz, also bodennah, abbeißen und nicht wie eine Kuh abreißen, wird die Grasnarbe zum Rausschießen animiert. Daher spricht man vom goldenen Biß des Schafes. Und weil sie viel leichter sind als eine Kuh, verfestigen sie nicht so stark den Boden, und das nennt man den goldenen Tritt des Schafes.“ Um so unverständlicher, daß es in Deutschland immer weniger Schafe gibt. Laut Statistischem Bundesamt blökten noch im Jahr 1900 rund zehn Millionen Schafe auf dem Deutschen Reichsgebiet, im vergangenen Jahr lebten nur noch 1,5 Millionen in Deutschland. 

Wer Schäfer ist, der muß es aus Überzeugung sein. Denn er arbeitet im Grunde für einen Hungerlohn. „Beratungsfirmen haben ausgerechnet“, sagt Stoll, „daß Schäfer einen durchschnittlichen Stundenlohn von 6,80 Euro haben.“ Und das liegt mitnichten an den Fleischpreisen. Umweltverbände und linksgrüne Politik erschweren die Arbeit und drücken den Verdienst. Denn die haben ihre Liebe zum Wolf entdeckt. „Wir haben riesige Kosten durch den Wolf. Gerade gestern rief mich ein Kollege an. Bei zwei Wolfsangriffen verlor er jüngst 17 Schafe, und mehrere seiner Herdenschutzhunde sind verletzt.“ Allein 2018, sagt Stoll, habe er 90.000 Euro für Schutzzäune investiert. Ein ausgebildeter Herdenschutzhund kostet, so schätzt er, 8.000 Euro. Pro Hund soll er sich mindestens eine halbe Stunde am Tag kümmern, ihn erziehen, füttern, beschäftigen. „Bei zehn Hunden kostet mich das mindestens 15.000 Euro im Jahr.“ 

Der Wolf ist zu einem existentiellen Problem für die deutschen Schäfer geworden. „Sachsen hat zum Beispiel die höchste Wolfsdichte auf der Welt“, sagt Stoll. „Von 14.000 Wölfen in Mittel- und Osteuropa leben 2.000 Tiere alleine in Deutschland.“ Noch rund 950 Schäfer gibt es in Deutschland. „Wir Schäfer, nicht die Wölfe, gehören auf die Rote Liste“, sagt Stoll zum Abschied.

In der Bibel gibt es viele Erwähnungen des Schäfers. Ja, natürlich den Psalm 23 („Der Herr ist mein Hirte)“, aber auch Johannes 10,10: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“

Foto: Alleskönner Schaf: Die Tiere liefern Wolle, Fleisch, Milch und sind ausgezeichnete Naturpfleger