© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/22 / 22. April 2022

Die verdammte Demographie!
Vor der Stichwahl zwischen Macron und Le Pen: Frankreichs Parteienlandschaft wird sich grundlegend wandeln
David Engels

It’s the economy, stupid“, lautete 1992 eine der Leitlinien der Wahlkampagne Bill Clintons; ein Satz, der lange als Credo der Linksliberalen und als Universalantwort auf alle denkbaren Probleme gelten konnte. Mittlerweile allerdings sollte man ihn wohl ersetzen durch „It’s the demography, stupid“ – gerade in Frankreich, wo der demographische Wandel in jeder Hinsicht ganz besonders dramatisch ist.

Ob es sich um das zahlenmäßige Verhältnis von Autochthonen und Migranten handelt, von Alt und Jung, von Arm und Reich, von Rechts und Links, von Bewohnern der großen Metropolregionen und denen der Provinzen – überall verschieben sich die Gleichgewichte, und mit dem quantitativen Wandel wird früher oder später auch ein qualitativer einhergehen. Die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahlen, welche den definitiven Wegfall der traditionellen Rechten und Linken (Républicains 4,8 Prozent; Sozialisten 1,7 Prozent) und die Bestätigung der drei Charismatiker Macron (27,8 Prozent), Le Pen (23,1 Prozent) und Mélenchon (22 Prozent) gebracht haben, ist nur ein Fingerzeig, wie fundamental nicht nur Frankreich, sondern ganz Westeuropa sich gegenwärtig verwandelt – egal, wie die zweite Runde am kommenden Sonntag ausgeht.

So zeigen die Statistiken, daß die jüngsten Wähler (18–34 Jahre) überwiegend für Le Pen und Mélenchon stimmten (32 respesktive 33 Prozent), kaum aber für Macron (17 Prozent); ein Verhältnis, das sich mit steigendem Alter umkehrt, so daß es in der „Boomer-Generation“, also der um 1955 bis Ende der sechziger Jahre Geborenen, 39 Prozent waren, die für den amtierenden Präsidenten eintraten, aber nur 13 Prozent und 16 Prozent, die seinen linken bzw. rechten Konkurrenten bevorzugten. Zwar war die Wahlbeteiligung bei den jüngsten Wählern (18–24 Jahre) mit etwa 60 Prozent eher gering, während sie bei den älteren (über 65) bei 78 Prozent lag, was um so mehr ins Gewicht fällt, als letztere Wählerklasse mittlerweile fast ein Fünftel der Gesamtbevölkerung ausmacht. Es fällt aber nicht schwer, sich auszumalen, in welche Richtung sich das Gleichgewicht in einigen Jahren verschieben wird.

Ein ähnliches Verhältnis stellen wir in Hinsicht auf das Einkommen der Wähler fest: Von den Geringverdienern (unter 1.000 Euro/Monat) wählten 33 Prozent Mélenchon und 32 Prozent Le Pen, aber nur 14 Prozent Macron, während sich das Verhältnis bei steigendem Einkommen umkehrt: Bei denen, die über 3.500 Euro/Monat verdienen, stimmten 39 Prozent für Macron, aber nur 18 Prozent für Mélenchon und 13 Prozent für Le Pen. Bedenkt man die stetig steigende soziale Polarisierung Frankreichs, wird auch hier deutlich, welche Verschiebungen zu erwarten sind: Zumindest dem Anspruch nach würden beide neuen „Volksparteien“ links stehen und sich vor allem identitätspolitisch unterscheiden.

Freilich bestehen nicht nur Symmetrien zwischen Mélenchon und Le Pen. So wurde deutlich, daß letztere weiterhin das Vertrauen der Arbeiter genießt (42 Prozent), bei Kadern, Intellektuellen und Unternehmern (wo Macron ca. 30 Prozent der Stimmen gewann) aber nur 10 Prozent einfuhr, während Mélenchon mit etwa 20 Prozent bei allen Berufsklassen sehr gleichmäßig zu punkten verstand.

Ähnlich deutlich ist, daß Macron vor allem in den großstädtischen Zentren dominiert, Mélenchon aber in den berüchtigten „Banlieues“ und Le Pen schließlich in jenen ländlichen Gebieten (v.a. des Nordostens und Südens), die aufgrund des hypertrophierten Wachstums der Hauptstadtregion auf dem besten Weg sind, sich in eine infrastrukturelle und demographische Wüste zu verwandeln, und nicht ohne Grund zum Ausgangspunkt der Gelbwesten-Bewegung wurden.

Ein letzter, kaum unwichtiger Aspekt ist der ethnische Hintergrund der Wähler – ein in französischen Statistiken wohlgehütetes Geheimnis, das aber trotzdem hier und da ansatzweise gelüftet werden kann. So wollten etwa 36 Prozent der Wähler mit afrikanischem Migrationshintergrund Mélenchon und 27 Prozent Macron wählen – aber nur 9 Prozent Le Pen. Bedenkt man die mit dem Aussterben der älteren Jahrgänge anstehende Bevölkerungsverschiebung zugunsten der Bürger migrantischen Ursprungs, wird die Zeit sicherlich auch hier bedeutende politische Transformationen mit sich bringen.

Freilich, die französische politische Landschaft ist alles andere als unwandelbar, wie etwa die Tatsache gezeigt hat, daß sowohl die Republikaner als auch die Sozialisten, die bis vor kurzem noch ein Zweiparteiensystem konstituierten, fast vollständig von der Bildfläche verschwunden sind. Auch Emmanuel Macron hält seine Partei lediglich durch seinen persönlichen Wahlerfolg zusammen, und Ähnliches läßt sich von Mélenchon behaupten. Und selbst das Monopol der Le Pens auf die französische Rechte ist nirgendwo festgeschrieben, bedenkt man den Aufstieg Eric Zemmours, der zeitweise den ganzen Rassemblement National erschütterte.

Alle diese grob skizzierten Tendenzen werden wohl kaum aufzuhalten sein. Mit dem allmählichen Aussterben der „Boomer“-Generation wird es zum definitiven Wegfall der letzten äußeren Reste der traditionellen Parteienlandschaft kommen, welche sich in Frankreich ohnehin nur noch in ihrer zentristischen und technokratischen Inkarnation durch Emmanuel Macron halten können. An ihre Stelle wird eine ideologisch zunehmend linksgrün dominierte Regierungspartei treten, welche mit Hilfe von Brot und Spielen sowie einem immer engmaschigeren Überwachungsapparat den Spagat zwischen den sozialen Forderungen einer verarmten vorstädtischen Wählerschaft, den identitätspolitischen Interessen der Migranten und den Vorgaben einer mächtigen Wirtschaftselite bewältigen muß. Ihr gegenüber wird sich dann, in welcher Form auch immer, eine starke konservative Opposition befinden, welche vor allem auf dem Land, bei den einfachen Menschen autochthonen Ursprungs dominiert – ein Land, das mittlerweile gerade von jungen katholischen Konservativen und Identitären wiederentdeckt wird und zum Sammlungspunkt eines Kampfes um die Seele Frankreichs, einer schrittweisen „Reconquista“ des Staates ausgebaut werden könnte.

Auf den Ausgang der Stichwahl um das Präsidentenamt am 24. April zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen dürfte sich das indes noch nicht auswirken. Zu einflußreich sind die Leitmedien, zu mächtig die ganz auf den Kampf gegen Rechts gestimmte Boomer-Generation, zu groß der strategische Vorteil, den der Ukraine-Krieg dem Amtsinhaber bringt. 46 zu 54 Prozent, so soll das Kräfteverhältnis zugunsten von Macron liegen. Aber knapper ist es nie gewesen.