© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/22 / 22. April 2022

„Unfair gegenüber denen an vorderster Front“
Gesundheitssystem: Nach dem Scheitern der allgemeinen Impfpflicht fordern Sozialverbände, auch die einrichtungsbezogene abzuschaffen
Peter Freitag

Der einen Freud ist der anderen Leid. Das Scheitern der allgemeinen Impfpflicht im Bundestag hat außer der Opposition vor allem die Kritiker dieses weitreichenden Eingriffs in die Grundrechte jubeln lassen. Doch auf der anderen Seite fühlen sich nun vor allem die von der geltenden einrichtungsbezogenen Impfpflicht Betroffenen – allen voran die Beschäftigten im Pflege- und Gesundheitssektor – besonders benachteiligt und gegenüber allen anderen diskriminiert. 

Vermehrt werden Forderungen laut, nun auch die einrichtungsbezogene Impfpflicht auszusetzen oder ganz abzuschaffen – sie zumindest „umgehend auf den Prüfstand“ zu stellen, wie es der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß, verlangte. Er sprach von einem „ganz bitteren Signal für Pflegekräfte und Ärzte in den Krankenhäusern“. Und die Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg, Annette Noller, kritisierte, daß nun die Mitarbeiter „in den Einrichtungen der Pflege, Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht einseitig in die Verantwortung genommen“ würden. Bei den Betroffenen herrsche darob „völliges Unverständnis“. 

Ziemlich kleinlaut räumt nun mancher Politiker ein, daß mit dem Scheiten der allgemeinen wiederum die einrichtungsbezogene Impfpflicht so nicht mehr sinnvoll aufrechtzuerhalten ist. Denn letztere sei, so gab Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zu, „mit der Maßgabe eingeführt worden, daß ihr eine allgemeine Impfpflicht folgt“. Da dies „offenkundig gescheitert“ sei, müsse der Bund nun überprüfen, „was er da möchte“. Ähnlich argumentierte der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU). Nach Angaben seines Hauses liegt die Impfquote im Pflegewesen deutlich über der in der Gesamtbevölkerung: Knapp 92 Prozent der Pflegekräfte im Freistaat seien mindestens zweimal geimpft. Bleibe es im Bund beim Nein zur allgemeinen Impfpflicht, müsse die einrichtungsbezogene auf den Prüfstand. „Alles andere wäre denjenigen gegenüber unfair, die seit zwei Jahren an vorderster Front gegen die Pandemie kämpfen“, so Holetschek. 

Eine Umfrage des Portals Business Insider bei den Gesundheitsministerien aller 16 Bundesländer ergab, daß bundesweit über 120.000 Mitarbeiter im Gesundheitswesen nicht gegen Covid-19 geimpft sind, wobei drei Länder (Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz ) keine Angaben gemacht hatten.

Jede helfende Hand werde in der Pflege gebraucht

Unterdessen hat in einem ersten Urteil zu dieser Problematik das Arbeitsgericht Gießen die Klage zweier Beschäftigter eines Seniorenheims gegen ihre Freistellung durch den Arbeitgeber abgewiesen. Deren Arbeitgeber hatte das Risiko einer Beschäftigung von ungeimpften Mitarbeitern mit Kontakt zu den teils hochbetagten Heimbewohnern als zu hoch eingeschätzt. Die zwei Mitarbeiter, die weder einen Impf- noch einen Genesenenstatus nachweisen konnten, waren daraufhin von der Arbeit freigestellt worden – auch ohne daß – wie eigentlich vorgeschrieben – zunächst ein behördliches Beschäftigungsverbot vorlag. Es sei dem Arbeitgeber jedoch unbenommen, unter Berücksichtigung der gesetzlichen Wertungen des entsprechenden Paragraphen im Infektionsschutzgesetz „und unter Anwendung billigen Ermessens das besondere Schutzbedürfnis der Heimbewohner höher als das Beschäftigungsinteresse ungeimpfter bzw. nicht-genesener Mitarbeiter zu gewichten“, urteilten die Richter.

Andere Pflegeleitungen handhaben die Sache anders: „Solange es uns das Gesundheitsamt nicht verbietet, machen wir weiter wie bisher“, zitierte die ARD-„Tagesschau“ einen Einrichtungsleiter. Der betonte, er wolle auf die wenigen umgeimpften Mitarbeiter nicht verzichten und belasse sie daher auf dem Dienstplan: Es herrsche in der Pflege Personalmangel, jede helfende Hand werde gebraucht.