© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/22 / 22. April 2022

Wenn zwei sich streiten
Krieg in der Ukraine: Wie Rußlands Invasion eine aus Moskau stammende Familie in Deutschland spaltet
Florian Werner

Was in der Ukraine passiert, ist eine Tragödie!“ Michail Blinow, von seiner Familie immer nur liebevoll Mischa genannt, wirkt aufgewühlt. „Die Waffenlieferungen aus dem Westen führen nur dazu, daß Brüder aufeinander schießen“, beklagt er im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. Seinen wirklichen Namen nennt er aus Angst vor Diskriminierung nicht. Blinow kommt aus Moskau und lebt schon seit 20 Jahren mit seiner Familie in einer norddeutschen Kleinstadt. Zusammen mit seiner Frau arbeitet er als Informatiker für ein Unternehmen, in dem vor allem Menschen aus den ehemaligen Ostblockstaaten tätig sind. „Ich liebe Deutschland, aber die deutsche Ukraine-Politik halte ich für falsch.“ Vor allem die Waffenlieferungen sieht er mit Skepsis. „Die deutsche Redewendung ‘Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte’ gibt es auch bei uns. Auf russisch geht der Spruch aber eher in die Richtung ‘Wenn zwei sich streiten, halte dich lieber raus’. Das sollten die Europäer im Kopf behalten.“ Die Hilfsbereitschaft des Westens werde sich womöglich noch rächen, wenn sich Russen und Ukrainer in Zukunft doch wieder zusammenraufen sollten. „Das wäre nicht das erste Mal in der russisch-ukrainischen Geschichte“, mahnt Blinow. 

Zwischen dem russischen Präsidenten und dem russischen Volk bestehe ein besonderes Vertrauensverhältnis, erläutert der Informatiker weiter.  In Europa könne sich niemand vorstellen, wie schrecklich die Zeit in Rußland nach dem Ende der Sowjetunion war. „Natürlich hatten wir auf einmal solche Sachen wie McDonald’s, aber eben auch Drogen und Armut. Das ist der Liberalismus, den wir damals kennengelernt haben. Einige meiner Klassenkameraden haben das nicht überlebt.“ Unter Putin sei es dann im Laufe von knapp drei Jahrzenten zu einem wirtschaftlichen Aufschwung gekommen. „Damals hatten wir in Moskau noch überall streunende Hunde. Heute wirkt die Stadt wie ausgetauscht. Ich erkenne die Straßenzüge jedesmal kaum wieder, wenn ich in der Heimat bin. An manchen Stellen geht es moderner zu als in London oder Berlin.“ 

Die russische Welt umfaßt für Blinow mehr als nur die Staatsgrenzen Rußlands. Für ihn ist Moskau genauso ein Teil dieser Welt wie das Altaigebirge in Kasachstan oder Odessa am Schwarzen Meer. Als junger Mann ist er im Kaukasus geklettert, er hat auf der Krim am Strand gelegen und in Wladiwostok seinen Wehrdienst geleistet. Daß all diese Orte unterschiedlichen Nationen angehören sollen, wirkt auf ihn wie ein Märchen. „Was man in Europa nicht versteht, ist, daß man sowohl als Ukrainer als auch als Tschetschene oder Jakute problemlos Russe sein kann. Die russische Nation hat Platz für viele Volksgruppen. Asiaten, Europäer und Moslems – wir sind alles Russen “, sagt Blinow. 

„Wo ist die Demokratie, wenn ich meine Flagge nicht zeigen darf?“

Die prorussischen Autokorsos in vielen deutschen Städten könne er verstehen. Die Leute hätten ein Recht darauf, ihre Sicht auf den Krieg zu äußern. Zuletzt hatten erneut Hunderte russischsprachige Menschen in Deutschland an Protesten teilgenommen. Die Kundgebungen hatten Mottos wie „Gegen Rassismus und Nationalismus“ oder „Gegen die Diskriminierung russischsprachiger Kinder in den Schulen“. Demonstriert wurde unter anderem in Stuttgart, Frankfurt am Main, Hannover und Berlin. Auf den Veranstaltungen war neben der russischen und der kasachischen Flagge auch vereinzelt das Z-Zeichen zu sehen, das allgemein als Symbol des russischen Einsatzes in der Ukraine gilt.

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnik zeigte sich entrüstet über diese Demonstrationen und forderte das Verbot der russischen Fahne bei den Protesten. „Das Tragen aller offiziellen Symbole eines Aggressor-Staates – wie der russischen Fahne – müßte per Gesetz verboten werden, solange Rußland diesen Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Nation führt.“ Besondere Kritik äußerte er darüber, daß ein Autokorso jüngst ungehindert quer durch die deutsche Hauptstadt fahren konnte.

Die Polizei an der Spree mahnte hinsichtlich solcher Forderungen indes zur Vorsicht. „So schwer es gesellschaftlich zu ertragen ist, vor allem vor dem Hintergrund der Ereignisse in Butscha, ist eine solche Versammlung dennoch Bestandteil unserer Demokratie – und grundgesetzlich geschützt“, teilte ein Sprecher der Behörde mit. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten gebe es keine Möglichkeit, solche Versammlungen zu verbieten.

Anders verhält es sich hingegen mit der zur Schau gestellten Parteinahme für die russischen Streitkräfte. Das Z-Zeichen, die Sowjetfahne und das Georgsbändchen werden von den Behörden inzwischen als illegale Sympathiebekundung geahndet. Aber auch hier tun sich Grauzonen auf. Die innenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Irene Mihalic, erinnerte beispielsweise daran, daß es in der Praxis schwer sei, den Buchstaben Z von dem Z zu trennen, das für die russischen Kriegsziele stehe. Dennoch wurden dem Redaktionsnetzwerk Deutschland zufolge deutschlandweit inzwischen mehr als 140 Strafverfahren gegen Demonstranten eingeleitet. 

Michail Blinow findet solche Diskussionen haarsträubend. „Wo ist hier die Demokratie, wenn ich nicht einmal mehr die Flagge meines eigenen Landes in der Öffentlichkeit zeigen darf?“ Daß solche Forderungen gerade von dem ukrainischen Botschafter kommen, wundert den Computerfachmann wenig. „Für mich ist Melnik einfach ein Nazi. Natürlich will er die russische Fahne verbieten.“

Allerdings denken nicht alle in seiner Familie so wie Blinow. Vor kurzem erst ist sein Cousin Sergei in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von Deutschland aus in die Ukraine gereist, um vor Ort zu helfen. Er könne nicht dabei zusehen, wie seine Heimat in Schutt und Asche gelegt werde. Auch Blinows Tochter Maria runzelt bei solchen Sätzen die Stirn. Wie viele junge Russen lehnt auch sie den Einmarsch ihres Landes in die Ukraine ab. „Ich bin einfach nur traurig, wenn ich die Bilder vom Krieg sehe“, seufzt sie. Sie erinnert sich noch lebhaft daran, wie sie als Kind im Kiewer Zoo war. „Leider gilt es in der Generation meiner Eltern fast schon als Landesverrat, wenn man das Blutvergießen in der Ukraine verurteilt. Die Toleranz ist da sehr niedrig.“ Sie selbst habe schon darüber nachgedacht, wegen der Kämpfe ihren Paß abzugeben und die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Aber eigentlich will sie das nicht. „Es ist mir wichtig zu zeigen, daß es auch Russen gibt, die Frieden wollen.“

„Der Krieg beginnt leider schon in unseren Köpfen“

Ihren Vater überzeugt das nicht. Für ihn ist die Haltung seiner Tochter nur der Beweis dafür, wie verbreitet antirussische Ressentiments mittlerweile sogar bei Russen sind. Dabei würden sich derzeit sehr viele Sorgen um ihre Zukunft in Deutschland machen. Auch er habe mit seiner Frau schon über eine mögliche Rückkehr nach Rußland gesprochen.

Auf seiner Arbeit ist der Krieg Blinow zufolge überhaupt kein Thema. Obwohl er mit Russen, Kasachen, Ukrainern und sogar Balten zusammenarbeite, sei es noch nie zu Streit gekommen. „Wir sind erwachsene Menschen und halten uns zurück. Manchmal machen wir Witze über unsere Politiker – anders kann man nämlich nicht über das Thema reden.“ Man habe das mit der Zeit erst lernen müssen. Seit der Ukraine-Krise im Jahr 2014 habe es viel Ärger in der russischsprachigen Gemeinschaft gegeben. Seine Familie habe es ein Stück weit auseinandergerissen. Eine Schwägerin ruft dann und wann aus Kiew an, um ihn zu beschimpfen. Mit einem seiner besten Freunde habe er sich sogar schon einmal deshalb geprügelt. Er selbst wolle sich eben nicht an den russischen Protesten beteiligen. Das sei nun einmal nicht seine Art, erklärt er. Aber er hoffe, daß die Kundgebungen die Menschen in Deutschland zum Nachdenken bringen. „Der Krieg beginnt schließlich leider schon hier oben“, sagt Blinow – und zeigt auf seinen Kopf. 

Foto: Schild bei einer pro-ukrainischen Demo in Berlin: Auf dem Plakat steht „Russisches Kriegsschiff, fahr zur Hölle“ – Zitat eines ikonischen Funkspruchs der Verteidiger der Schlangeninsel;  Im Zeichen des Doppeladlers: Eine Kundgebung unter dem Motto „Gegen die Diskriminierung russischsprachiger Menschen“