© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/22 / 22. April 2022

Bis zum Ende kämpfen
Ukraine: Nachlassende Dynamik bei Verhandlungen / Selenskyjs Spannungen mit Macron
Marc Zoellner

Mariupol „existiert nicht mehr“: Mit diesen drastischen Worten hatte sich vergangenen Sonntag der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba im Interview mit dem Fernsehsender CBS an die US-amerikanische Öffentlichkeit gewandt. Zur gleichen Stunde bombardierten bereits russische Überschallbomber die ostukrainische Hafenmetropole, in welcher noch immer ein Viertel der vormals vierhunderttausend Einwohner ausharrte, und neben diesen auch mehrere tausend Soldaten der ukrainischen Streitkräfte sowie des paramilitärischen „Regiment Asow“. 

Diese Truppen würden „bis zum Ende kämpfen“, bestätigte Denys Schmyhal, Ministerpräsident der Ukraine, beinahe gleichzeitig dem US-Sender ABC. Noch sei Mariupol nicht gefallen, so der Regierungschef und enge Vertraute des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. 

Doch wie sich die Lage zeigte, hatten sich die letzten verbliebenen Verteidiger der strategisch wichtigen Hafenstadt bis Montag bereits auf das weitläufige Fabrikgelände des Stahlwerks „Asowstal“ im Hafen von Mariupol zurückziehen müssen.

Die Vernichtung unserer Truppen und unserer Leute in Mariupol wird jeglicher Verhandlung ein Ende setzen“, warnte Selenskyj am Wochenende mit Blick auf Moskau. „Damit geraten sie in eine Sackgasse, denn wir werden weder über unser Landesgebiet noch über unsere Bürger verhandeln.“ 

Kiew: Joe Biden sollte die Ukraine  so schnell wie möglich besuchen

Als „Sackgasse“ hatte Rußlands Präsident Wladimir Putin die bilateralen Verhandlungen bereits vergangene Woche Dienstag bezeichnet und vermerkt, ihm wurde von seiten seines Stabs berichtet, „daß die ukrainische Seite etwas in ihren Verhandlungspositionen geändert“ habe, ohne hingegen konkreter zu werden. 

„Die Dynamik im Verhandlungsprozeß läßt zu wünschen übrig“, erklärte diesen Montag auch Putins Pressesprecher Dmitri Peskow der russischen Nachrichtenagentur Interfax. „Leider zeigt die ukrainische Seite in den vereinbarten Punkten nicht viel Beständigkeit. Ihre Position ändert sich häufig. Die Militäroperation wird somit fortgeführt.“

Für Selenskyj steht in diesen Tagen vieles auf dem Spiel: Nach der faktischen Niederlage der russischen Truppen in der Schlacht um die ukrainische Hauptstadt Kiew gibt es in der Ostukraine eine erneute russische Großoffensive. Ausgehend vom baldigen Fall der Stadt Mariupol warnt die ukrainische Regierung vor weiteren Massakern an Zivilisten, wie ähnlich bereits aus dem nordukrainischen Butscha berichtet wurde. 

Den französischen Präsidenten Emmanuel Macron kritisierte Selenskyj jüngst für dessen Weigerung, in der Ukraine von einem Völkermord zu sprechen. „Ich hatte gestern mit ihm geredet“, berichtete der ukrainische Staatsführer vergangenes Wochenende im Interview mit dem US-Nachrichtensender CNN. „Ich habe ihm nur gesagt, ich möchte, daß er versteht, daß dies kein Krieg ist, sondern nichts anderes als Völkermord.“ 

Vor dem Interview hatte Macron erklärt, er wäre „mit solchen Worten vorsichtig, denn diese beiden Völker sind Brüder.“ Seinen französischen Amtskollegen lud Selenskyj ein, um sich vor Ort selbst ein Bild der russischen Kriegsverbrechen zu machen.

Dringend erwartet wird von Selenskyj überdies ein Besuch des US-Präsidenten Joe Biden. Einvernehmen besteht zwischen beiden Politikern zwar in der Bewertung des russischen Vorgehens gegen ukrainische Zivilisten als Genozid. „Ja, ich benenne das als Völkermord“, bestätigte Biden vor Journalisten vergangenen Dienstag im US-Bundesstaat Iowa. „Es wird immer deutlicher, daß Putin sogar versucht die Idee auszulöschen, Ukrainer sein zu können.“ 

Überdies hatte das Weiße Haus angekündigt, weitere Lieferungen „fortschrittlicher Waffen und Munition“ im Wert von über 800 Millionen US-Dollar, die für eine Abwehr der russischen Offensive in der Ostukraine unverzichtbar seien, bereits in Kürze in die Ukraine zu versenden. Allerdings existierten trotz mehrfacher Anfrage Kiews an Washington bislang keine Pläne für Biden, in die Ukraine zu reisen. 

Als symbolträchtiger Akt gegenüber den mit Waffenlieferungen noch zögerlichen europäischen Nato-Mitgliedern liegt dieser Wunsch Selenskyj besonders am Herzen. „Das ist natürlich seine Entscheidung“, zeigt sich der ukrainische Präsident von der Absage aus Washington betrübt. „Doch er ist der Führer der Vereinigten Staaten, und gerade deswegen sollte er herkommen, um alles mit seinen eigenen Augen zu sehen.“