© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/22 / 22. April 2022

Kontrolle schafft Sicherheit
Geld und Vertrauen: Defizite in der Umsetzung der neuen Ethik-Leitlinien im EZB-Rat bleiben
Dirk Meyer

Den Zusammenhang von Geld und Vertrauen faßte der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858–1918) in den Satz: „Geld ist die vielleicht konzentrierteste Form und Äußerung des Vertrauens in die gesellschaftlich-staatliche Ordnung“. Vertrauen ist eine notwendige Voraussetzung, daß Geld seine drei Funktionen uneingeschränkt erfüllen kann: Recheneinheit, Zahlungsmittel und Wertaufbewahrung. Notenbanken sind Institutionen, die dieses staatliche Gut produzieren. Trotz Rekordinflation von 7,5 Prozent im Euroraum betreibt die Europäische Zentralbank (EZB) weiterhin eine expansive Geldpolitik – mit einem besonderen Blick auf die Hochschuldenstaaten Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und Frankreich. Dabei nimmt sie die (halbwegs) soliden Staaten des Nordens gleichsam in Geiselhaft. 

Doch nicht nur die Stabilität des Geldwertes sieht die EZB locker – auch mögliche Interessenkonflikte ihres obersten Leitungsgremiums, des EZB-Rats, nimmt sie offen in Kauf. Ausgangspunkt waren Recherchen von US-Journalisten im Herbst 2021, die Wertpapiergeschäfte einiger hochrangiger Mitglieder der US-Federal Reserve Bank öffentlich machten (JF 2/22). Heftige Kritik, Diskussionen und letztlich eine Verschärfung der Verhaltensregeln bei der amerikanischen Fed (dem Zentralbankensystem der USA) folgten, „um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Integrität“ der US-Notenbank zu stärken. Für die EZB-Ratsmitglieder gelten auch nach Verabschiedung zweier neuer Leitlinien der EZB Ende 2021 weiterhin wesentlich weichere Anlagerichtlinien, die etwaige kritikwürdige Wertpapiertransaktionen ähnlich denen der Fed-Gouverneure gar nicht öffentlich werden ließen. Gleichwohl bewertet die EZB-Führung ihre ethischen Standards als „Grundlage für das Vertrauen der Menschen in uns und letztlich auch für die Glaubwürdigkeit der EZB“, so EZB-Präsidentin Christine Lagarde.

Konkret geht es um zwei mögliche, sich nicht ausschließende Wirkungszusammenhänge: Erstens beeinflussen individuelle Wertpapieranlagen beziehungsweise Transaktionen die Entscheidungen der Ratsmitglieder und gefährden die Unabhängigkeit ihres Handelns – mit hohen volkswirtschaftlichen Schadensrisiken. Zweitens ermöglicht die Nutzung von Insiderwissen individuelle Gewinne aus Vermögensanlagen beziehungsweise Wertpapiergeschäften. Hierbei entsteht zunächst kein volkswirtschaftlicher Schaden, allerdings ein ethisch und politisch nicht akzeptables Gerechtigkeits- und Verteilungsproblem. Im ersten Fall wirkt ein bestehendes Wertpapierportfolio eines Ratsmitgliedes auf sein geldpolitisches Handeln. Im zweiten Fall werden Änderungen eines Wertpapierportfolios auf der Grundlage von Insiderwissen vorgenommen. Diese Unterscheidung ist wichtig für die Aufstellung präventiver Verhaltensregeln.

Für US-Fed-Mitglieder sind die Anforderungen umfangreicher

Ein Vergleich der Selbstangaben zu den Vermögensverhältnissen zum Jahresende 2021 gegenüber 2020 läßt etwa für Lagarde nur erkennen, daß ihr Wertpapierbestand unverändert zwei Fonds umfaßte. Dagegen hat das deutsche EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel – wohl aufgrund der Diskussionen – alle 33 zuvor gehaltenen Einzelaktien abgestoßen und hielt zum Ende 2021 weiterhin zehn ETFs sowie einen aktiv gemanagten Fonds. Zudem läßt sich bei weiteren EZB-Ratsmitgliedern eine regionale Depotausrichtung entnehmen. So hält der estnische Zentralbank-Präsident Madis Müller Aktien von drei in seinem Heimatland ansässigen Unternehmen. Der Chef der maltesischen Notenbank, Edward Scicluna, ist laut Eigenangaben an nicht-börsennotierten maltesischen Firmen beteiligt. Pierre Wunsch, Präsident der belgischen Zentralbank, hält Anteile von zwei belgischen Startups.

Demgegenüber geben einige Ratsmitglieder an, keinerlei Aktien, Anleihen oder Fonds zu besitzen, so etwa der Niederländer Frank Elderson (EZB-Direktorium), Gabriel Makhlouf (Central Bank of Ireland) oder auch Bundesbank-Präsident Joachim Nagel, dessen Vorgänger Jens Weidmann zwei ETFs hielt. Die Selbstangaben einer weiteren Gruppe von Mitgliedern weisen lediglich Geldbestände oberhalb von 100.000 Euro bei mindestens einer Bank aus, die der EU-Bankenaufsicht unterliegen, darunter der irische EZB-Chefökonom Philip Lane, der Italiener Fabio Panetta (EZB-Direktorium) und Robert Holzmann (Österreichische Nationalbank). Einen Sonderfall bildet François Villeroy de Galhau (Banque de France), dessen Wertpapierdepot nur Aktien des Keramik-Anbieters Villeroy & Boch enthält, deren Miteigentümer er ist.

Für die US-Fed-Mitglieder sind die geforderten Angaben erheblich umfangreicher. Nicht nur die Art der Investments mit Wertpapierkennummer, sondern auch der Anlagewert und die zugeflossenen Zinsen und Dividenden sind anzugeben. Außerdem sind alle im Jahresverlauf vorgenommenen Käufe und Verkäufe wertmäßig und datumsgenau aufzuführen. 

Diese Informationen sind wichtig, um etwaige zeitliche Zusammenhänge mit geldpolitischen und marktrelevanten Entscheidungen der Zentralbankakteure nachvollziehen zu können, die auf die Nutzung von Insiderwissen schließen lassen könnten. Dies war in den USA bei vier Fed-Gouverneuren der Fall und führte dort zu Rücktritten. Ein kurzfristiger spekulativer An- und Verkauf eines Wertpapieres innerhalb eines Kalenderjahres würde in den hiesigen „Interessenerklärungen“ hingegen nicht sichtbar werden, obwohl private Finanzgeschäfte gemäß den allgemeinen Grundsätzen der EZB „einen mittel- bis langfristigen Anlagehorizont“ haben sollten. 

Eine Umsetzung der neuen EZB-Ethik-Leitlinien in einem reformierten Ethikrahmen sollte deshalb neben diesen Zusatzangaben auch eine Genehmigung aller Wertpapiergeschäfte durch die „Stabsstelle für Compliance und Governance“ vorsehen. Eine Mindesthaltedauer von Wertpapieren, angelehnt an die zwölf Monate bei der US-Notenbank, würde spekulative Investments verbieten. Darüber hinaus sollten Sperrfristen für einen Zeitraum von sieben Tagen bis inklusive des Sitzungstages des EZB-Rates gelten. Verbindliche Ethik-Regeln sind ein wirksames Ersatzgewissen.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

 www.ecb.europa.eu

Foto: Figuren in einem Netz aus gemalten Verbindungen: Eine Mindesthaltedauer von Wertpapieren und Sperrfristen um den Sitzungstag des EZB-Rates könnten das Vertrauen in die Lauterkeit der Entscheidungen der EZB-Ratsmitglieder stärken