© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/22 / 22. April 2022

Chip, Chip, hurra in Deutschland
Halbleiter: Die Industrie kommt mit der Produktion nicht nach / Die EU-Kommission will nun die Wertschöpfungskette in Europa optimieren
Josef Hämmerling

Sie sind winzig klein und nur wenige Gramm schwer. Dennoch wird die Welt mehr und mehr abhängig von ihnen. Die Rede ist von Halbleiterchips. Diese sind der Hauptbestandteil von Mikrochips, und sie bestehen aus Materialien, deren elektrische Leitfähigkeit zwischen der eines Leiters wie Kupfer und der eines Isolators wie Glas liegt. Halbleiter werden überall benötigt: in Computern, Autos, Mobilgeräten und Industrieanlagen, aber auch in Kaffeemaschinen, Kinderspielzeug und Energiesparlampen. Der Großteil der Halbleiter wird auf Basis von Silizium hergestellt, aber auch organische Stoffe spielen zusehends eine Rolle, zum Beispiel in OLED-Displays. Sie werden durch Prozesse wie Lackierung, Belichtung und Ätzung bearbeitet. So entstehen dreidimensionale Strukturen, durch die Ströme geleitet werden: die Schaltkreise.

Ein einzelner Chip ist rund einen Millimeter bis wenige Zentimeter groß. Die Bauteile messen nur  100 Nanometer oder weniger. Zum Vergleich: Ein menschliches Haar ist etwa 70.000 Nanometer dick. Von der Größe her verhalten sich Chipstrukturen zu einem Haar etwa so wie ein Haar sich zu einem Baumstamm. Dadurch, daß sie den Strom erst dann leiten, wenn eine elektrische Spannung an sie angelegt wird, sind Halbleiter ideale Kandidaten für miniaturisierte Schalter, die Transistoren.

Mondlandung könnte mit dem Smartphone berechnet werden

Heute gibt es praktisch keinen Bereich mehr, in dem Halbleiter nicht mehr eingesetzt werden. Grund ist ihre minimale Größe und ihr extrem niedriges Gewicht bei gleichzeitig immer besserer und stärkerer Leitfähigkeit. Das paßt genau in den Trend immer kleinerer, dafür aber leistungsfähigerer Geräte. Man denke nur an Fernseher, bei denen die Spitzenmodelle nur noch ein bis zwei Zentimeter tief sind, zum Teil sogar noch weniger, und dennoch Lautsprecher enthalten, die auch anspruchsvolle Ohren zufriedenstellen. Das gleiche bei Autos. Wo früher große und sperrige Steuergeräte eingebaut werden mußten, genügen heute winzige Platten. Halbleiter sind auch der Grund, warum Mobiltelefone und Tablets trotz ihrer inzwischen sehr geringen Abmessungen oftmals genauso leistungsfähig sind wie ein stationärer Computer und man mit ihnen auch anspruchsvolle Rechenoperationen ausführen kann. Heute steckt in jedem Smartphone mehr Rechenleistung, als die Nasa 1969 für die Mondlandung brauchte.

Andere Geräte, die diese Chips verwenden, sind Alltagsgeräte wie Waschmaschinen, deren Chips zeitgesteuerte Schleuderzyklen und gespeicherte Einstellungen berechnen, um zu bestimmen, wie eine bestimmte Wäschemenge gewaschen wird. Moderne Kühlschränke verwenden Chips, um ihre Temperaturregelung zu steuern oder unterschiedliche Temperaturen für bestimmte Zonen zu definieren. Staubsauger-Roboter verfügen über komplexe Künstliche-Intelligenz-Systeme, die es ermöglichen, selbst zu navigieren, den Modus zu wechseln und Hindernissen auszuweichen.

Dieser Trend hat aber einen großen Nachteil: Die Industrie kommt mit der Produktion und vor allem auch mit der Lieferung nicht mehr nach; die mit Corona begründeten Einschränkungen tun ein übriges. Durch die Lockdowns in vielen Ländern, gerade auch bei den besonders strengen Firmenschließungen in China, mußte die Produktion massiv abgebaut werden. Da in vielen Ländern auch die Häfen ihre Kapazitäten herunterfuhren und es im Luftverkehr ebenfalls starke Einschränkungen gab, wurden die Lieferketten mehr und mehr unterbrochen. Dadurch konnte der weltweite, in die Milliarden Halbleiter gehende Bedarf nicht mehr gedeckt werden, so daß zum Beispiel im vergangenen Herbst in Deutschland mehrere Kfz-Hersteller ihre Produktion kürzen oder sogar teilweise stillegen mußten.

Bei Stellantis, dem viertgrößten Automobilhersteller der Welt, sind nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters im ersten Quartal 2021 rund 190.000 Autos weniger produziert worden als geplant. Bei Volkswagen waren es rund 100.000 Fahrzeuge, die nicht gebaut werden konnten. Und laut einer Prognose des globalen Beratungsunternehmens AlixPartners vom September vergangenen Jahres wurden 2021 weltweit 7,7 Millionen weniger Fahrzeuge produziert. Im Mai 2021 wurde noch von 3,9 Millionen weniger hergestellten Automobilen ausgegangen. Die aktualisierte Schätzung bedeute, daß die Automobilhersteller aufgrund des Chipmangels Fahrzeuge im Wert von 210 Milliarden US-Dollar nicht produzieren können, was deutlich über der Schätzung des Unternehmens vom Mai in Höhe von 110 Milliarden US-Dollar liegt. Auch bei Computern, insbesondere bei Notebooks, gab es große Lieferprobleme und damit einhergehend deutliche Absatzrückgänge. Keine Probleme gibt es dagegen bei dem Grundstoff für Halbleiter, Silizium, der in Quarzsand zu finden ist.

Viele Experten, so auch IG-Metall-Chef Jörg Hofmann, rechnen noch bis „mindestens Ende dieses Jahres“ mit „signifikanten Problemen“, sagte Hofmann der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ). Der Gewerkschaftsvorsitzende forderte auch, Abhängigkeiten zu reduzieren und „solche strategisch wichtigen Teile, wenn nicht in Deutschland, zumindest in Europa zu produzieren“.

Die Europäische Kommission hat auf die Probleme reagiert und im Februar das Europäische Chip-Gesetz vorgeschlagen. Mit diesem soll die Widerstandsfähigkeit und technologische Souveränität der EU im Bereich der Halbleitertechnologien und -anwendungen gestärkt werden. Hierzu sollen von den EU-Staaten und internationalen Partnern mehr als 43 Milliarden Euro an öffentlichen und privaten Investitionen mobilisiert werden, mit dem Ziel, den derzeitigen Marktanteil der EU bis 2030 auf 20 Prozent zu verdoppeln. „Das Europäische Chip-Gesetz wird die globale Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Binnenmarkts verändern. Kurzfristig wird es unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber künftigen Krisen erhöhen, indem wir Störungen der Lieferkette antizipieren und vermeiden können. Mittelfristig wird es Europa zu einer führenden Position in dieser strategisch wichtigen Branche verhelfen“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel. IG-Metall-Chef Hofmann hatte bereits in dem NOZ-Interview gesagt, die Region rund um Dresden könne „das nächste Silicon Valley“ werden, da sich dort schon sehr viele Firmen angesiedelt hätten, die auf diesem Gebiet forschen.

Als ersten Schritt dieser Initiative „Chips für Europa“ kündigte von der Leyen an, das bereits bestehende „Gemeinsame Unternehmen für digitale Schlüsseltechnologien“ strategisch neu auszurichten. Dieses verbesserte „Gemeinsame Unternehmen für Chips“ wird im ersten Schritt elf Milliarden Euro erhalten, „um Forschung, Entwicklung und Innovation zu stärken, den Einsatz fortschrittlicher Halbleiter-Werkzeuge und die Errichtung von Pilotanlagen für Prototypen sowie das Testen und Erproben von neuen Halbleitermodellen für innovative praktische Anwendungen sicherzustellen, Fachkräfte auszubilden und ein vertieftes Verständnis des Halbleiter-Ökosystems und der Wertschöpfungskette zu entwickeln“, so die Kommissionspräsidentin. Von der Leyen forderte die Mitgliedstaaten auf, „unverzüglich mit Koordinierungsbemühungen im Einklang mit der Empfehlung zu beginnen, um den aktuellen Stand der Halbleiter-Wertschöpfungskette in der gesamten EU zu optimieren“.

Bislang spielt Europa bei der Herstellung von Halbleitern eine untergeordnete Rolle. So rangiert dem US-Forschungs- und Beratungsunternehmen Gartner zufolge das im bayerischen Neubiberg beheimatete Unternehmen Infineon mit umgerechnet elf Milliarden Dollar Jahresumsatz für das Geschäftsjahr 2021 unter „ferner liefen“ der weltweit größten Halbleiterhersteller. Auf den Plätzen zehn bis acht stehen US-Unternehmen, und zwar AMD (15,9 Milliarden Dollar), Nvidia (16,3 Milliarden Dollar) und Texas Instruments (16,9 Milliarden Dollar). Im Jahresvergleich um einen Rang vorgerückt ist der taiwanesische Hersteller MediaTek mit einem Umsatzwachstum von 58,8 Prozent, der nun Platz sieben einnimmt und auf 17,5 Milliarden Dollar Jahresumsatz für 2021 kommt. Auf den Plätzen sechs bis vier stehen wieder US-Firmen: Broadcom (18,8 Milliarden Dollar), Qualcomm (26,9 Milliarden Dollar) und Micron Technology mit 28,5 Milliarden Dollar Umsatz. Auf dem dritten Platz behauptete sich SK Hynix aus Südkorea (36,3 Milliarden Dollar).

Der US-Gigant Intel will in Magdeburg Fabrik bauen

Der im Jahr 1968 gegründete Halbleiterspezialist Intel aus Kalifornien gelangt mit riesigem Abstand vor den Mitbewerbern (73,1 Milliarden Dollar Umsatz) bloß noch auf Platz zwei der zehn weltgrößten Chiphersteller, von der Spitze verdrängt durch den südkoreanischen Konkurrenten Samsung Electronics, der 76 Milliarden Dollar umsetzte. Samsung ist wieder der weltweit größte Hersteller von Speicherchips (DRAM- und NAND-Speicher). 2018 hatte Samsung Intel schon einmal von Platz eins verdrängt, weil die Speicher-ICs einen bis dahin unbekannten mehrjährigen Aufschwung genommen hatten.

Doch täuschen diese Zahlen insofern, als kein Unternehmen seinen Bedarf allein decken kann. Sowohl die USA als auch Europa haben die Fertigung von Chips weitgehend aufgegeben und nach Asien ausgelagert. Zudem stellen verschiedene Länder jeweils spezielle Komponenten her. So gibt es in Japan zum Beispiel den größten Wafer-Hersteller der Welt, Shin-Etsu. Wafer sind, vereinfacht gesagt, die Grundplatten, auf die die Chips montiert werden. Stark ist das Land auch bei Spezialchemikalien, mit denen etwa Wafer beschichtet werden, dem sogenannten Fotolack. Das Unternehmen ASML aus den Niederlanden stellt als einzige Firma der Welt Produktionsmaschinen für die besten Chips her. Eine Maschine kostet rund 120 Millionen Euro. Die Produktion der Chips muß dabei in Räumen erfolgen, in denen die Luft reiner und steriler ist als in Operationssälen. Immer wichtiger wird auch Taiwan. Das Land ist die Heimat des weltgrößten Auftragsfertigers, TSMC, der mehr als die Hälfte aller weltweiten Chips herstellt. Zudem sitzt dort der Weltmarktführer für das Testen und Verpacken von Chips, ASE. Der taiwanische Wafer-Hersteller GlobalWafers kaufte Anfang 2021 seinen deutschen Konkurrenten Siltronic und schloß damit ganz dicht zum japanischen Wafer-Weltmarktführer Shin-Etsu auf.

Doch es gibt Hoffnung auf künftige Entspannung bei der Fertigung: Intel wird in Magdeburg zwei hochmoderne Halbleiterfabriken bauen und dafür die enorme Summe von 17 Milliarden Euro investieren. Es wären die ersten Produktionsstätten des US-Konzerns in Europa. Die Kalifornier wollen in der sachsen-anhaltinischen Landeshauptstadt zunächst 3.000 Arbeitsplätze schaffen, wie vor einem Monat bekannt wurde. Magdeburg habe sich unter vielen Kandidaten durchgesetzt und war „am Ende klar vorn“, sagte Intel-Chef Pat Gelsinger. Die Verfügbarkeit von Elbewasser war ein ausschlaggebendes Kriterium. In einem Jahr soll der Bau beginnen. Die Hoffnung von IG-Metall-Chef Hofmann könnte noch übertroffen werden: Auch Magdeburg könnte ein Halbleiterzentrum werden, wie jetzt bereits Dresden mit Zulieferbetrieben und Forschungseinrichtungen – und mittelfristig die Lage auf dem europäischen Chipmarkt entspannen.

 www.mckinsey.de

Foto: Ein Techniker prüft eine Scheibe (Wafer), auf der die Halbleiter montiert werden: Die Chipfertigung erfolgt weit überwiegend in Asien