© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/22 / 22. April 2022

Rebellion gegen die Entfremdung
„Der gedichtete Himmel“: Der Literaturwissenschaftler Stefan Matuschek hat mit seiner Geschichte der Romantik ein vielfältiges Epochenporträt vorgelegt
Eberhard Straub

Noch ist kein Menschenalter vergangen, seit die moderne Romantik, wie eine prächtige Rakete, funkelnd zum Himmel emporstieg und, nach kurzer, wunderbarer Beleuchtung der nächtlichen Gegend, oben in tausend bunte Sterne spurlos zerplatzte.“ Mit diesen Worten begann 1845 Joseph von Eichendorff seine Überlegungen, warum er und die romantische Bewegung so rasch aus der Mode kamen, wie beide überraschend zu Mode geworden waren. Er sprach von der modernen Romantik und von sich als modernem Dichter. Also gab es für ihn noch eine andere Romantik, die nicht sogleich ergebnislos verpuffte und nicht von der Zeit umstandslos widerlegt werden konnte. Der Literaturwissenschaftler Stefan Matuschek beschäftigt sich in seiner Geschichte der Romantik – „Der gedichtete Himmel“ – ausschließlich mit der modernen Romantik. Mit ihr läßt er die „moderne Literatur“ beginnen. Sie ist für ihn also gar nicht spurlos geblieben und vergessen worden. 

„Modern“ sind in der europäischen Geschichte seit dem 11. Jahrhundert viele Ausdrucks- und Lebensformen gewesen, verbunden mit ästhetischen Richtungen, philosophischen Schulen und religiösen Gemeinschaften. „Die Moderne“ hat es nie gegeben, weil es in allen Epochen, die stolz auf ihre Modernität waren, nur um neue Zeiten ging, die mit ihrem Anderssein frühere als veraltet hinter sich lassen und sich von lästigen Traditionen befreien wollten. Die Romantiker um 1800 rebellierten gegen eine verabsolutierte Vernunft, die das gesamte Leben ihrer systematisierenden Planung und Organisation unterwerfen wollte und während der Französischen Revolution als Versuch der reinen Vernunftherrschaft konsequent zu Terror und der Despotie führte.

Mit der Dialektik der Aufklärung und deren Folgen waren die Romantiker und ihre Zeitgenossen unmittelbar vertraut. Die Romantiker, aber auch ihre Gegner und Feinde unter den Klassizisten oder Traditionalisten kämpften gar nicht gegen „die Aufklärung“ oder „die Moderne“, wie Stefan Matuschek immer wieder betont, sondern gegen deren Unzulänglichkeiten. 

Sie setzten, um nur in Deutschland zu bleiben, den Protest der literarischen Strömung Sturm und Drang gegen starre Konventionen und Regeln fort oder beschleunigten die Emanzipation der Sinne und der erotischen Leidenschaften, die empfindsame Sentimentale allmählich vorbereitet hatten. Die Einbildungskraft, die Gefühle, das geistreiche Temperament sollten nicht weiter von schematisierenden und jede Eigenwilligkeit einschränkenden Normen in ihrer Entfaltung aufgehalten werden. Das unerschöpfliche Individuum, die Genialität und die freie Selbstbestimmung forderten ihr Recht im Namen der Natur und der Natürlichkeit, die mit der Freiheit untrennbar zusammenhingen.

Viele Aufklärer, einer geist- und leblosen Aufklärung überdrüssig, ebneten den Romantikern den Weg, die oft nur Lautverstärker waren für Hoffnungen und Wünsche, die sich seit 1750 überall in Europa bemerkbar machten, um einen neuen Menschen voller neuer Lebenslust und schöpferischer Kraft zu schaffen, dessen Würde nicht darin bestehen sollte, als Systemelement in einem Staat und einer Gesellschaft, als Maschinen verstanden,  zu funktionieren und für fremde Zwecke abgerichtet und mißbraucht zu werden. Die Entfremdung wurde schon vor den Romantikern als schreckliche Gefahr erkannt, die den Menschen daran hindert, sich zum wahren Menschen zu bilden.

Die Originalgenies waren also gar nicht so originell. Sie begriffen sich als Erben und kamen gar nicht auf den Gedanken, sich von allen Überlieferungen zu lösen. Sie mochten sich gegen die klassischen Modelle der Tragödie, der Komödie, der Elegie und der Idylle empören, aber aufgrund ihrer klassischen Schulbildung waren sie mit der Antike verbunden und konnten bei Griechen und Römern „Romantiker“ entdecken, die sie anregten und sie befähigten, ein neues Bild der hellenistisch-römischen Kultur zu entwerfen oder sich in die Renaissancen antiker Ideen und Ideale einzufühlen. „Klassisch“ und „romantisch“ waren daher, trotz kräftiger Polemiken, keine unüberbrückbaren Gegensätze. Selbstverständlich griffen auch „Klassiker“ wie Goethe, Schiller oder der Italiener Leopardi Anregungen der jungen Romantiker auf, sie waren Zeitgenossen und atmeten die gleiche Luft, die zwischen allen Dingen wehte. 

Goethes „Faust“ erfüllte die romantische Forderung nach der Vermischung des Erhabenen mit dem Komischen, des Schönen mit dem Grotesken, der Einbeziehung auch des Häßlichen und Widerwärtigen in das würdige Spiel, in dem jeder mitdenkende und mitfühlende Leser oder Zuschauer erkennen sollte, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Außerdem gab es die frühere Romantik, wie sie sich vor allem in Spanien seit dem 16. Jahrhundert entwickelte. Die Spanier hatten sich von jeher den Vorschriften klassischer Regelmäßigkeit verweigert. Das Leben in seiner komischen und entsetzlichen Fülle fürchteten sie nicht, weil die Freiheit des unerschöpflichen und unberechenbaren Menschen die schaurigsten und die glückhaftesten Folgen haben kann. Don Quijote, die Dramen Lope de Vegas und Calderóns, die zuweilen surrealistischen Träume oder nahezu unerträglichen Schreckensszenen bei Quevedo und vor allem die spätmittelalterlichen Romanzen der Spanier bildeten die frühere Romantik, auf die sich Eichendorff, Achim von Arnim, Goethe und Grillparzer bezogen. Leider geht Stefan Matuschek auf die Spanier nicht ein, obschon es gerade Deutsche waren, die nach und nach die übrigen Europäer mit ihrer Spanienbegeisterung ansteckten und deutsche Romantiker das barocke Theater eines Gryphius oder der Jesuiten wiederentdeckten.

Die Spanier empfanden sich nicht als neue Romantiker, weil sie ihre Literatur als Vorbild aller romantischen Bestrebungen begriffen. Katholiken blieben ohnehin von romantischen Absichten weitgehend unberührt. Auch in Deutschland: Die deutschen Romantiker waren Protestanten und Norddeutsche. Bayern und Österreicher schüttelten meist verständnislos den Kopf über die wirren Aufgeregtheiten der „Nordlichter“. Der katholische Eichendorff ist die große Ausnahme. Davon handelt Stefan Matuschek nicht, auch nicht von dem Unterschied adliger Romantiker wie Achim von Arnim und Joseph von Eichendorff zu ihren bürgerlichen Gefährten. Es lag ihnen ganz fern, mitten in der Überlebenskrise des Adels ihren Stand und ihre Welt zu romantisieren. Der Adel gehört nicht zur Moderne, wie Stefan Matuschek sie sich vorstellt. 

Ihn beschäftigt der Subjektivismus der Literaten, nie von ihrem Ich absehen zu können, also alle überpersönlichen Mächte – die Kunst, die Wissenschaft, den Staat, die Kirche – auf ihre unverwechselbare Indivualität zu beziehen, um dabei innerlich zu „erfahren“, wie diese ihre Phantasie in Schwingungen versetzen und zum ganz eigenen „Erlebnis“ werden. Das immer mit sich selbst diskutierende Ich trachtet danach, wie Novalis empfahl, alles zum „Ausgangspunkt eines unendlichen Romans“ zu machen. Insofern gibt es gar nicht „die Romantik“. Es gibt vielmehr romantische Originalgenies, die den Alltagsmenschen, Philister oder Spießer mit seinen Wonnen der Gewöhnlichkeit verachten und nach Abenteuern aller Art suchen, um das Leben zum Erlebnis zu machen, überwältigt von Stimmungen, die sie nötigen, unter Umständen ins Grenzenlose und Unfaßbare zu schweifen. In den weiten Reichen ungeahnter Möglichkeiten und Vermischungen der Gegensätze zu überraschenden Harmonien kommt die Einbildungskraft der Lebenskünstler freilich nie zur Ruhe. Denn das Individuum, dauernd hinter dem „Interessanten“ her, um für andere „interessant“ zu bleiben, ahnt, daß es weitere und vielleicht noch viel verheißungsvollere Paradiese geben kann als seine im Gedicht erreichten Himmel. 

Die Romantisierung und die mit ihr verbundene Ästhetisierung des unübersichtlichen und oft recht dürftigen Lebens, also das beziehungsreiche Spiel mit sämtlichen privaten wie kollektiven Hoffnungen, Sehnsüchten oder Enttäuschungen, hält stets unterschätzte oder noch gar nicht geahnte Möglichkeiten bereit, die Anlaß zu ganz anderen Kombinationen und „Narrativen“ geben. Die Moderne steht schließlich unter dem Druck, ununterbrochen sich selbst zur allerneuesten Neuzeit zu überholen, damit der unendliche Roman der Modernisierung seinen Zauber als stets überraschende Universalpoesie nicht einbüßt.

Stefan Matuschek sieht gerade in der Unentschlossenheit und der Bereitschaft, sich auf nichts festlegen zu lassen, den Vorzug der Romantiker und der Modernen, immer offen zu sein für Experimente und Wagnisse im Prostest gegen die Routine, die Konventionen und Normen. Für Eichendorff lag in der Unentschlossenheit und der Neigung vieler Romantiker und Moderner, sich alle Möglichkeiten offenzuhalten, der Grund für ihre Schuld und Buße, daß aus der schönen Literatur alsbald eine unschöne geworden war. 

Stefan Matuschek: Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der Romantik. C.H. Beck, München 2021, gebunden, 400 Seiten, 28 Euro

Foto: Caspar David Friedrich, Der Wanderer über dem Nebelmeer, Öl auf Leinwand, um 1818: Inbegriff der deutschen Romantik