© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/22 / 22. April 2022

Ausgrenzungsmechanismen von Vegetariern
Eine Frage der Moral
(dg)

Der westliche Vegetarismus pflegt nach wie vor ein uneingeschränkt positives Indienbild – was immer noch auf die Ausstrahlung Mahatma Gandhis zurückzuführen sei, wie die Globalhistorikerin Julia Hauser (Uni Kassel) in ihrer tief ins 19. Jahrhundert zurückführenden „Verflechtungsgeschichte des Vegetarismus“ herausgefunden hat. Der Kopf der indischen Unabhängigkeitsbewegung traf mit seiner Entscheidung für die vegetarische Ernährung eine ethisch motivierte Wahl, die er in seine Philosophie der Gewaltlosigkeit integrierte. So habe sich das symbolische Kapital des Vegetarismus in westlichen Kulturen schon kräftig vermehrt, bevor der Verzicht auf Fleisch als wichtiger Baustein zur Bekämpfung der Klimakrise und des Leids von Tieren in der Massentierhaltung „Rohköstlern“ fast Heiligenstatus verschaffte. Dieses Image erhalte derzeit aber häßliche Kratzer. Denn auf dem Subkontinent ist es seit 2014 verstärkt zu Lynchmorden an Muslimen wegen ihres Fleischkonsums gekommen. Unterschiedliches Eßverhalten kann offenbar soziale Konflikte befeuern und Gesellschaften tiefgehend spalten. Dabei verläuft die Grenze in Indien nicht allein zwischen Muslimen und Hindus, sondern auch innerhalb der Hindu-Mehrheit, ist doch Fleischverzicht eng mit dem Kastensystem verbunden und hat von jeher als sozialer Ausgrenzungsmechanismus funktioniert. Wer Fleisch aß, mußte in der Schule separat sitzen, durfte viele Berufe nicht ergreifen. Diese Vorurteile, so Hauser, seien bis in die Gegenwart intakt geblieben. In Städten wie Mumbai fänden Personen, die wie Muslime als Nicht-Vegetarier gelten, schwerer eine Wohnung als Hindus (Deutsche Universitätszeitung, 3/2022). 


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