© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/22 / 22. April 2022

Wie Brüssel den Wertewandel in Osteuropa beschleunigen will
Desintegration durch Recht
(wm)

Aufgrund des starken Bezugs zu gewachsenen Überzeugungen und Wertvorstellungen, die in den jeweils eigenen historischen Traditionen wurzeln, kennzeichnete das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil (2009) das Familienrecht als Bereich, in dem die der EU angehörenden Nationalstaaten „die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben müssen“. Nach den Beobachtungen des Soziologen Martin Höpner (Max-Planck-Institut für Gesellschaftslehre) vollzieht sich unter der Ägide der Brüsseler Kommission und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) seit geraumer Zeit ein schleichender Prozeß, der diesen mitgliedstaatlichen Schutzschirm um das Familienrecht „knacken“ könnte. So hat der EuGH im Dezember 2021 die Weigerung bulgarischer Behörden verworfen, für das im Ausland lebende Kind eines gleichgeschlechtlichen Paares eine Geburtsurkunde auszustellen. Höpner sieht darin die gerichtliche Anweisung zur Anerkennung von Regenbogenfamilien, was er mit den EU-Instanzen zwar für einen wünschenswerten Anstoß zum Wertewandel hält – um aber zugleich zu bezweifeln, ob es klug sei, osteuropäischen EU-Mitgliedern und deren Familienverständnis per Gerichtsentscheidungen westliche „Diversität aufzuoktroyieren“. Jedenfalls würden aufgrund dieser Praxis Zweifel wachsen, daß es im Europarecht „mit rechten Dingen zugeht“. Die eskalierenden Spannungen im europäischen Rechtsverbund signalisieren, daß für Brüssel und Luxemburg das Recht nicht länger der Integration diene. Statt dessen riskiere man es, damit die Desintegration zu fördern und die europarechtliche Schraube dysfunktional zu überdrehen (Merkur, 4/2022). 


 www.merkur-zeitschrift.de