© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/22 / 22. April 2022

Seelische Verwundungen
Alltagskram und geistiger Austausch: Zum Briefwechsel zwischen den Eheleuten Gretha und Ernst Jünger
Oliver Busch

Ein in der weltliterarischen Liga weit oben angesiedelter Autor fasziniert sein Lesepublikum nicht allein mit seinem Werk. Mindestens so interessant ist für viele sein Leben. Auch oder gerade deshalb, weil sie hoffen,  die Biographie erleichtere das Verständnis des Werkes. Eine Hoffnung, die sich ebenso auf Editionen von Lebensdokumenten erstreckt, vornehmlich auf Briefe und Tagebücher, aber auch, wie das Extrembeispiel des Ministers Goethe und seiner „amtlichen Schriften“ beweist, schlechthin auf alle sonstigen, im „Brotberuf“ produzierten nicht-literarischen Texte. Vor diesem Hintergrund könnte selbst eine „historisch-kritische“ Ausgabe sämtlicher Rezepte des Hautarztes Dr. med. Gottfried Benn, fänden sich Durchschriften im Nachlaß, auf neugierige Abnehmer spekulieren.

Folglich schien es bei dem gern als „Jahrhundert-autor“ gerühmten Ernst Jünger überhaupt keine Frage zu sein, daß eine Perle seiner uferlosen Korrespondenzen, der „Ehebriefwechsel“ mit Gretha von Jeinsen, seit 1925 verheiratete Jünger, endlich das Licht der Öffentlichkeit erblicken mußte. Die Herausgeber, der Literaturhistoriker Detlev Schöttker (HU Berlin) und die Lektorin Anja Keith, treiben darum nur bescheidenen Aufwand, um ihr von der Fritz Thyssen Stiftung gefördertes Unternehmen zu rechtfertigen. Doch räumen sie ein, daß sie beileibe nicht jedes Blatt für publikationswürdig erachteten: Erhalten sind stolze 1.964 Schreiben, von denen sie lediglich 358 abdrucken. Welchen Kriterien die Auswahl gehorcht, wird nur angedeutet mit der Bemerkung, der Briefwechsel zwischen Ehepartnern drehe sich in der Regel um die Organisation des Alltags, ein „geistiger Austausch“ finde selten statt. Soll das heißen, daß knapp fünf Sechstel dieses Briefkonvoluts aussortiert wurden, weil sie der Nachwelt nichts als schnöden „Alltagskram“ bieten?

Ein Schwerpunkt liegt auf der Zeit des Zweiten Weltkrieges

Hätten durch diesen groben Rost nicht ebenso gut die meisten der publizierten Briefe fallen müssen? „Geistigen Austausch“ pflegen auch sie nicht. Lektüren finden spärlich Eingang, selbst das sich via Zeitung, Radio, Wochenschau aufdrängende Zeitgeschehen wird nur am Rande  beachtet. Was durchaus untypisch ist, wie wir aus der jüngsten Forschung zum Verhältnis „privat und politisch“ wissen, so wie es sich in den mit Pro oder Contra-NS-Einträgen gespickten Tagebüchern ab 1933 spiegelt (Janosch Steuwer, „‚Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse‘“. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939“, Göttingen 2017).

Stattdessen geht es bei den Eheleuten Jünger stets um Forderungen des Tages, um Haus und Garten, Geld und Ernährung, die Erziehung beider Söhne,  das Befinden von Verwandten, Freunden, Nachbarn und Haustieren. Was trotzdem „hohen biographischen und historischen Quellenwert“ der Briefe begründen soll, gilt mithin nicht für die gesamte Auswahl, sondern allein für den Ausnahmezustand des Zweiten Weltkriegs, der das Paar lange trennt, ihn als Besatzungsoffizier nach Paris führt, sie mit den Kindern in Kirchhorst, am Rande Hannovers, zurückläßt. Darum liegt das Schwergewicht von 254 unter 358 Briefen auf der Zeit zwischen September 1939 und August 1944. 

Paradoxerweise nicht der in der Seine-Metropole flanierende Etappensoldat Jünger, sondern seine an der „Heimatfront“ ausharrende Frau schwebte damals in ständiger Lebensgefahr. Mitte Juni 1941 schreibt er maschinenschriftlich an Greta: „Für mich ist nicht der Krieg das eigentliche Problem, sondern die Aufrechterhaltung meines geistigen Standards inmitten seiner Wirbel und die Fortführung meiner Arbeit trotz alledem. Manches kommt mir dabei doch zugute, so das unsichtbare Kapital, das ich in meiner Leserschaft besitze und das zu meiner geistigen Macht gehört – es wirkte sich auch in Paris für mich aus.“

Die Korrespondenz ist geprägt von einer chronischen Beziehungskrise

Unterdessen liegt das dörfliche Kirchhorst im Visier der Royal Air Force, die zivile Ziele im Raum Hannover bereits im Frühjahr 1940 angriff – übrigens ein halbes Jahr vor dem gewöhnlich von medial allgegenwärtigen Apologeten des anglo-amerikanischen Bombenterrors reflexartig bemühten deutschen Luftschlag gegen Coventry. Im Oktober 1943 meldet Gretha Jünger mit der ihr eigenen Lakonie nach Paris: „Wir sind noch am Leben, aber frage mich nicht nach den Einzelheiten dieser Nacht. […] Wir lagen auf der Erde im Flur, sobald wir das Heulen der Bomben hörten. Die armen Kinder wußten nicht mehr aus noch ein vor Angst. […] Ich habe Urlauber aus Rußland gesprochen, die mir sagten, dort wäre es nicht anders als hier auch; Du kannst Dir von der Wucht mit der dieser Angriff geführt wurde, keine Vorstellung machen.“

Überschreitet Gretha Jünger als Kriegschronistin hier und in zahlreichen weiteren Schilderungen immerfort den engen Horizont ihres ländlichen Alltags, fügen Ernst Jüngers Briefe seinen veröffentlichten Pariser Tagebüchern („Strahlungen“, 1949) kaum Neues hinzu. Eine Passage allerdings, aus einem Brief vom 18. Juli 1942, in die „Strahlungen“ fast wörtlich übernommen, verdient angesichts des für manche Leser vielleicht verstörend abstoßenden Charakterbildes, das die übrige Korrespondenz von ihm zeichnet, zitiert zu werden: „Hier wurden in diesen Tagen viele Juden verhaftet, um nach dem Osten deportiert zu werden. Zuvor trennte man sie von ihren Kindern, die Bevölkerung hörte das Jammern ganze Straßenzüge weit. Ich bemühe mich, zu keiner Minute des Tages die unermeßlichen Leiden zu vergessen, von denen ich umgeben bin – handelte ich anders, so wäre ich kein Mensch und kein Offizier.“

Hauptmann Jünger ist also nicht, wie Freunde und Feinde oft kolportierten, identisch mit einem „Eiszapfen“. Doch seiner Frau gegenüber handelt er wahrlich nicht als „Mensch und Offizier“, wenn er sie in den Pariser Jahren mit der Kinderärztin Sophie Ravoux fleißig betrügt – und den Verrat wie ein kleiner Spießer (erfolglos) zu verheimlichen versucht. Diese chronische Beziehungskrise durchzieht die Korrespondenz der Kriegsjahre als roter Faden – und setzt sich auch danach fort; 1948 ist sogar von Scheidung die Rede. Die Entfremdung schwelt bis zu Gretha Jüngers Krebstod im November 1960 weiter. Der Riß, den grell ein brieflicher Verzweiflungsschrei vom 30. Juni 1944 beleuchtet, war zu tief: „Daß ich in einer Zeit wie dieser, in der wir ständig und von allen Seiten her bedroht sind, ohne das feste Bewußtsein Deiner Zuverlässigkeit leben muß, ist bitter genug …“.

Um das Pochen auf den „biographischen Quellenwert“ des Bandes zu untermauern, würden selbst solche intimen Einblicke in schwerste seelische Verwundungen nicht genügen. Wichtiger sind darum die Linien, die sich von hier aus zwischen Biographie und Werk ziehen lassen. Für den gefühllosen Egoismus des Menschen zahlt der Autor Ernst Jünger nämlich einen hohen Preis. Der Philosoph Joachim Ritter hat dieses Phänomen, dessen Ursprung Klaus Theweleits hoch umstrittene „Männerphantasien“ (1977) in frühkindlichen Beziehungsstörungen verortet, die die psychisch versteinerte Kriegsgeneration von 1914 geprägt habe, anhand von Jüngers „Der Gordische Knoten“ (1953) bereits als Zeitgenosse thematisiert. Dieser geschichtsphilosophische Essay interpretiert die Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges scheinbar plausibel als Wiederkehr eines uralten Gegensatzes zwischen der „abendländischen Freiheit und dem asiatischen Schrecken“. 

Ritter, der als Gastprofessor seit 1953 an der Universität Istanbul lehrte und am modernen türkischen Leben teilnahm, war über soviel „vom Glanz einer bildungs- und bildergeschmückten Sprache verklärten“ Wirklichkeitsverlust einigermaßen entsetzt. Von Jüngers Ideal, dem „mathematischen Tatsachenstil kristallklarer Zeitdiagnosen“, ist der Text himmelweit entfernt. Er beglaubigt für Ritter vielmehr die „Blindheit“ des Verfassers sowohl dem heutigen Asien wie der geschichtlichen Rolle gegenüber, die Europa im Verhältnis zu Asien zufalle. Um zu prüfen, ob solche „Blindheit“ womöglich kein Ausrutscher war, sondern die notorische Wahrnehmungsschwäche des wohl nicht von ungefähr in tote gepanzerte Käfer verliebten, glücklosen Zeitdiagnostikers Jünger notwendig aus dessen psychischer Disposition resultierte, wäre seine politisch, kulturkritisch und geschichtsphilosophisch gemeinte Publizistik wohl nochmals unter die Lupe zu nehmen. 

Gretha und Ernst Jünger: Einer der Spiegel des Anderen. Briefwechsel 1922–1960, herausgegeben mit einem Nachwort von Anja Keith und Detlev Schöttker, Klett-Cotta, Stuttgart 2021, gebunden, 717 Seiten, Abbildungen, 42 Euro

Foto: Ernst Jünger und Ehefrau Gretha (1947): Brieflicher Verzweiflungsschrei