© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/22 / 22. April 2022

Dorn im Auge
Christian Dorn

Das nächtliche Bild in der U-Bahn, wo – im Unterschied zu mir – noch alle gehorsamst am Maskenball teilnehmen, kommt mir vor wie ein schlechter Traum oder gar ein Märchen angesichts des sich abzeichnenden Endes der Corona-Diktatur. Während die Stimme aus dem Off obligatorisch zum Maskentragen auffordert, flüstern meine Lippen die Formel: „Rucke di gu, rucke di gu / Please wear mask FFP2.“ Freilich ist das kein Freibrief für Aschenputtel: „Der Coiffeur hat’s nicht erlaubt / Streust du jetzt Asche auf dein Haupt.“ Die Bundesfamilienministerin Anne Spiegel hätte das eigentlich wissen können.


Auf dem nächtlichen Heimweg begeg-net mir ein zu Boden gestreckter Roller, der Lenker wie ein Geweih – als wäre es ein erlegtes Tier. Und tatsächlich: Als ich es näher betrachte, sehe ich sein Brandzeichen, es ist die Marke „TIER“. Vielleicht hätte das „Tier“ auch lieber abgehangen, wie jenes Exemplar, das ich unlängst nachts fotografiert hatte, da es wie ein Vampir von einer Dachkante hing, in Sichtweite vom Portal der Gethsemanekirche, eines essentiellen Revolutionshorts von 1989. 


Der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Am nächsten Tag im russischen Café „Moloko“, das sich zur Ukraine bekennt, versuche ich wie immer die Pax Americana zu unterstützen, indem ich einen „Americano“ bestelle. Am Nachbartisch sitzen mit einem Mal vier junge skandinavische Frauen in angeregtem Gespräch. Während ich das Photo-Portfolio meines iPhones durchgehe, das zu dem Phänotyp des „Phonophors“ im Werk Ernst Jüngers doch frappierende Parallelen aufweist, werden mir plötzlich sämtliche Namen der Mädels angezeigt: Kotleka, Anna, Hannah und Juliette. Augenblicklich denke ich an die bedrohliche U-Bahnszene in dem unheimlichen Kinofilm „Im Auftrag des Teufels“ – allerdings fehlt mir das Zeug zu einem Al Pacino.


Anderntags, im Café des Westsektors, erklärt mir der Sohn des Gastronomen, daß es an der Zeit sei, die eigenen Barmittel gewissermaßen „zum Affen zu machen“. Um der Nullzinsfalle zu entgehen, investiert er in den „Planet der Affen“, sprich in die NFT-Bilder von wirklich affigen Affen-Motiven auf dem noch relativ neuen Blockchain-Protokoll Luna, wo aus einem 100-Dollar-Affen binnen kürzester Zeit Millionäre geboren werden. Mir ist das alles zu „strange“, ich halte mich lieber an den Tagesspiegel. Dessen Newsletter warb jüngst dafür, „mit Roma-Künstler:innen in Workshops Algorihtmen nach(zu)jagen“. Da denk ich mir doch: „Der Algorithmus in größter Not: / Du sollst nicht googeln! – Elftes Gebot.“ 


Am Ostersonntag, zwischen den jüngsten Kriegsberichten, überträgt der Deutschlandfunk die Botschaft von Papst Franziskus. Bei mir löst das einen Kurzschluß aus: „Ostern das Urbi et orbi – und was macht eigentlich Gorbi?“

Foto: Kein Fotorealismus, oder: Wie von Edward Hopper gemalt