© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/22 / 22. April 2022

Zwischen Taft und Tüll
Kino: Der französische Spielfilm „Haute Couture“ zeigt, daß Vorurteile und Solidarität einander nicht ausschließen
Dietmar Mehrens

Die rassistischen Beleidigungen fliegen auf Sylvie Ohayons filmischem Ausflug in die Modewelt so tief, daß die identitätsbewegten Anhänger von SPD, Linkspartei und Grünen vermutlich Deckung hinter dem Kinosessel ihres Vordermanns suchen müssen, wenn sie für „Haute Couture – Die Schönheit der Geste“ ins Lichtspielhaus gehen. Esther (Nathalie Baye), Leiterin eines Modeateliers, pöbelt sogar expressis verbis gegen die engstirnige Politische Korrektheit. 

Die Regisseurin, die selbst afrikanische Wurzeln hat, macht sich einen Spaß daraus, eine Empörungswelle auszulösen, um sie sogleich gegen eine Wand klatschen und einstürzen zu lassen: Erst zeigt sie, wie die junge Jade (Lyna Khoudri) sich nicht codekonform beschimpfen lassen muß, und dann, wie Jade kurz darauf ihrerseits einen Türsteher mit Migrationshintergrund wüst rassistisch beleidigt. Lustiger kann man die Doppelmoral einer Gesellschaft nicht entlarven, die Antirassismus wie eine Monstranz vor sich herträgt, jedoch gleichzeitig rassistisch unterscheidet, ob der Emittent der sogenannten Haßbotschaft weiß oder nicht weiß ist.

Lebensklugheit, die sich in glänzenden Dialogen ausdrückt

Als Weiße fühlen sich Jade und Souad (Soumaye Bocoum) aus dem Pariser Problemvorort Saint-Denis nicht. Souad hat afrikanische Vorfahren, Jades (untergetauchter) Vater ist Araber. Beide gehören dem beträchtlichen französischen Migrantenprekariat an – keine Arbeit, keine Perspektive. Um an Geld zu kommen, rauben sie mit einem Trick arglose Metro-Passanten aus. So sind sie an die Handtasche der Dior-Schneiderin Esther gekommen. Eine Beute mit Bumerang-Effekt: Der mit der Tasche erbeutete Davidstern bringe Unglück, kann ein männliches Familienmitglied die Mädchen überzeugen. Er rät: schnellstens zurückgeben!

So gerät Jade an Esther, die das Mädchen zwar erst mal rassistisch beleidigt, sich dann aber als überraschend nachsichtige Altruistin erweist, die Jade ob erwiesener Fingerfertigkeit eine Chance in ihrem Atelier geben möchte. Sie bietet ihr ein Praktikum zwischen Taft und Tüll an. Und da der Film sonst an dieser Stelle zu Ende wäre, läßt Jade sich überreden und stellt sich bei Dior gar nicht so ungeschickt an. „Mir gefällt, wenn ich etwas kann“, staunt sie über sich selbst. Ihre Haudruff-Freundin Souad staunt auch und erinnert Jade daran, daß man mit ihrer Herkunft nie eine Französin werden und nur immer die Vorstadtgöre bleiben könne. 

Natürlich kommt Esthers Prekariatsprotegée nicht bei jeder Kollegin gut an: „Wenn die morgen noch mal kommt, zahle ich die ganze Woche die Croissants“, spottet etwa die griesgrämige Andrée (Claude Perron), die zu Jades Chef-Demotivatorin wird und deren Ambitionen nach anfänglicher Begeisterung auszubremsen weiß. Erst verschwindet ein teures Parfüm, und dann verliert Jade die Contenance, als Esther ihr die Leviten liest. Wieder erhebt das Drehbuch ein Stereotyp – heißblütige Araber, die sich nicht in der Gewalt haben – in den Rang banaler Realitätsbeschreibung. 

Das ist gewagt. Aber das Kino hat Sylvie Ohayon damit selbstverständlich nicht neu erfunden. Zumeist bewegt sich ihr tragikomisches Sozialdrama auf ausgetrampelten Pfaden. Eine schwerkranke Mutter, ein gutaussehender Liebhaber (Kollege aus dem Atelier) und das aus dem thematisch ähnlich gelagerten Film „Die brillante Mademoiselle Neïla“ von 2017 (deutsche Version: „Contra“, 2021) herauskopierte Mentorenprogramm mit Esther als erfahrener Führerin aus dem Dickicht des Migrantenprekariats: alles schon gesehen. 

Die Stärke des Films sind die glänzenden Dialoge, gerade in kleinen Szenen am Rande der Haupthandlung. Da sitzt Esther mit zwei verbal zudringlichen Halbstarken im Zug und zieht ihnen durch ihre Schlagfertigkeit so gekonnt den Zahn, daß das Zusehen, das Zuhören vor allem eine wahre Freude ist. Nathalie Baye spielt das souverän. Und Lyna Khoudri ist hinreißend als junge Frau zwischen Aufschrei und Aufbruch.

Regisseurin Sylvie Ohayon läßt ganz bewußt mehrere Szenen in Kirchenräumen spielen, als wollte sie zum Ausdruck bringen, daß niemand Nestwärme und zwischenmenschliche Solidarität einfach aus dem Hut zaubern kann, sondern erst mal für seine eigene Seele eine Heimat gefunden haben und sich folglich in der Welt nicht wie ein spirituell Ausgemergelter fühlen muß. 

Der ganze Film steckt voller Lebensklugheit, die sich in brillanten Textzeilen Bahn bricht, und einer Warmherzigkeit, die sich wohltuend von der kalten Kaderpädagogik des deutschen polit-kulturellen Ethiklehrbetriebs abhebt. Der/die ohne Not in die Filmhandlung reinoperierte Transsexuelle aber, ein modisches Zugeständnis an die Regenbogenorthodoxie, ist eine „schöne Geste“ zuviel: Séphora (Romain Brau) stakst wie ein falscher Fuffziger durch die Kulissen.

Kinostart ist am 21. April 2022