© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/22 / 22. April 2022

Das Denken kann uns niemand abnehmen
Im Dickicht des Digitalen: Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden widmet sich in einer interaktiven Sonderschau Künstlicher Intelligenz
Paul Leonhard

Künstliche Intelligenz, die ihre eigenen Programmierer vernichtet, ist vor allem ein Thema für Hollywood-Thriller, die weit in der Zukunft spielen. Erschreckender ist ein absoluter Staat, der KI-Systeme zur Überwachung einsetzt und die Bevölkerung bereits so indoktriniert hat, daß diese das gut findet: China.

Dabei geht es meist um Gesichtserkennung durch flächendeckend installierte Kameras, die eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung der Menschen ermöglichen. In viel kleinerem Rahmen ist das auch bereits in Deutschland möglich, etwa in den Grenzgebieten zu Polen und Tschechien, wo die Polizeidirektion Bewegungsprofile erstellen kann. Allerdings sind den Möglichkeiten der Überwachung zumindest in der offiziellen Auswertung datenschutzrechtliche Grenzen gesetzt, aber ob diese eingehalten werden, wissen nur die Ermittler allein. Als Beweismittel in Strafverfahren können sie jedenfalls nicht eingesetzt werden. Weniger bekannt ist, daß auch KI-Systeme existieren, die Gesichter bei Aufnahmen im öffentlichen Raum anonymisieren. Erprobt wird dies derzeit in ausgewählten Zügen der Deutschen Bahn. Es ist der alte Streit zwischen dem Wunsch des Staates nach Allwissen und dem seiner Bürger nach Freiheit.

Es sei möglich, mit KI-Systemen Dinge über Menschen zu erfahren und systematisch zu erforschen, warnt der Wissenschaftsjournalist und Co-Kurator einer neuen Ausstellung in Dresden, Thomas Ramge: Es bestehe die Gefahr, daß mit solchen Systemen „der demokratische Diskurs unterhöhlt werde und Autokratien in die Lage kämen, ihre Macht zu erhalten“.

Deutschland soll führender Standort für KI werden

Künstliche Intelligenz (KI), die mit ihr verbundenen Menschheitsträume, Hoffnungen und Ängste, technischen Möglichkeiten, in den Mittelpunkt einer Ausstellung zu rücken, die sich an kein Fachpublikum wendet, sondern an ein möglichst breites Spektrum von Museumsbesuchern, ist ein kühnes Unterfangen. Das Dresdner Hygiene-Museum hat es gewagt und präsentiert unter dem Titel „Künstliche Intelligenz. Maschinen – Lernen – Menschheitsträume“ bis November auf rund 800 Quadratmetern und gegliedert in fünf Kapitel gegliedert so gut wie alle Aspekte dieses Phänomens, das zunehmend den Alltag der Menschen bestimmen wird und dem die Bundesregierung soviel Zukunftspotential zugesteht, daß sie entsprechend ihrer im November 2018 verabschiedeten „Strategie Künstliche Intelligenz“ bis 2025 etwa fünf Milliarden Euro investieren will und gleichzeitig für 2025 auf einen Anstieg der künftigen Wertschöpfung durch KI auf mehr als ein Drittel der Gesamleistung wettet. Erklärtes Ziel: Deutschland soll führender Standort für Künstliche Intelligenz werden und damit seine Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden.

Gleichzeitig ist die Bevölkerung gespalten. Laut einer Bitkom-Umfrage aus dem Dezember vorigen Jahres geben zwar fast drei Viertel (72 Prozent) der Deutschen an, daß sie KI ausschließlich (27 Prozent) oder eher (45 Prozent) als Chance sehen. 25 Prozent jedoch halten sie eher oder ausschließlich für eine Gefahr. Auch 42 Prozent der befragten Manager beobachteten Vorbehalte in ihren Belegschaften. Denn der Einsatz von KI bedeutet einen erneuten Wandel der Arbeitswelt.

Vielleicht war es die Angst vor Veränderung, die unsere Vorfahren aufatmen ließe, als sich der 1769 von dem österreichisch-ungarischen Hofbeamten und Mechaniker Wolfgang von Kempele konstruierte legendäre Schachspiel-Automat letztlich als raffinierte und mit einem Menschen besetzte Attrappe herausstellte, aber schon im Mai 1997 besiegte der von IBM entwickelte Computer „Deep Blue“ Schachweltmeister Gary Kasparow. Inzwischen werden die Deutschen von Staatstrojanern auf ihren Computern und Mobiltelefonen ausspioniert, sammeln Internetkonzerne alle verfügbaren Daten und verkaufen diese, verlassen sich immer mehr Menschen nicht auf die eigene Intelligenz und Freunde, sondern befragen Alexa.

Die gigantischen Einsatzmöglichkeiten von KI-Systemen hat auch die Bundesregierung erkannt. So hat sie die Internetgiganten per Gesetz verdonnert, die sozialen Netzwerke nach mißliebigen Äußerungen zu durchsuchen. Seither sind die Anbieter dieser Netzwerke, darunter Twitter, Facebook und Youtube (allein auf dieser Plattform wird jede Minute 400 Stunden Material hochgeladen) bußgeldbewehrt dazu verpflichtet, mißliebige Inhalte“ zu löschen.

Angeregt von den Ideen und Theorien der Antike und den ersten Erfindungen wie dem Handwaschautomaten des Universalgelehrten Ismail al-Jazari im ersten Ausstellungsraum erfährt der Besucher im „Trainingsraum“ wie KI prinzipiell funktioniert: Er kann mit Hilfe eines Simulators dem System das Autofahren beibringen und lernt selbst: Künstliche Intelligenz kann nur, was ihr beigebracht wurde, kann aber diese eine bestimmte Arbeit dann sehr präzise, günstig, schnell und unter Umständen viel besser als der Mensch lösen.

Anschließend werden die Voraussetzungen erklärt, die erst der KI den Weg in die Zukunft ebnen: die rasante Entwicklung von Hard- und Softwarekompetenzen in den vergangenen zwanzig Jahren. Immer kostengünstigere und leistungsstärkere Mikrochips, ein flächendeckendes Internet und Hochleistungs-Rechenzentren bilden die gigantische und energieintensive Infrastruktur der KI.

KI-Systeme gestalten im Alltag viele Prozesse effizienter

Die Ausstellung fragt nicht nur nach diesem in der Öffentlichkeit sonst kaum thematisierten Energieverbrauch, sondern auch nach den Arbeitsbedingungen und der ökologischen Verantwortung von Google, Amazon, Microsoft und Co. Nachdem damit die globalen Themen umrissen sind, darf der Besucher darüber nachdenken, inwieweit KI-Anwendungsfelder für ihn selbst hilfreich, verzichtbar oder gefährlich sind beziehungsweise wo KI-Systeme sich bereits weit ins Zusammenleben eingenistet haben, die einen – freiwillig bei Diäten oder Sportprogrammen – überwachen oder mit gezielter Werbung versehen. Als Alltagshelfer gestalten sie viele Prozesse effizienter, wecken aber auch neue Konsumbedürfnisse. Gezielt werden die Lebensbereiche Arbeit, Wohnung, Medizin, Auto, Mobilität und die staatlichen Kontrollsysteme ausgeleuchtet.

„Re-Visionen von KI“ ist der letzte Raum überschrieben, den der bis dahin zwischen Hoffnung und Skepsis schwankende Besucher betritt. Er weiß jetzt von modernen Diagnostikmethoden, die Krankheiten erkennen und zu heilen helfen, von selbstfahrenden Autos und dem sekundenschnellen Abfragen von Informationen, aber auch von den schier unbegrenzten Möglichkeiten des Staates, seine Bürger rund um die Uhr zu bespitzeln.

Experten äußern sich zum Einfluß von KI-Systemen auf Politik, Ökologie, Arbeitsmarkt und das Verhältnis von Mensch und Maschine. „Im ‘Glass Room‘ des Kollektivs Tactical Tech helfen wir Ihnen, sich durch das verwirrende Dickicht des Digitalen zu schlagen. Dabei erfahren Sie nicht nur, wie KI und das Internet die Informationsgesellschaft verändern, sondern auch, wie man täuschend echte Deepfakes (komplett erfundene Reden) entlarven kann“, schreibt Ausstellungskuratorin Yasemin Keskintepe. Diese hat sich an dieser Stelle entschieden, ihre Neutralität aufzugeben und den Besuchern zumindest Handlungsempfehlungen mit auf den Heimweg zu geben. Diese lauten wenig überraschend, die eigenen Daten zu schützen, möglichst wenig Persönliches in den „Sozialen Medien“ auszuspielen, vor einer Teilnahme an Persönlichkeitstests erst gründlich zu überlegen. Denn eines werden KI-Systeme auch künftig nicht leisten, so Co-Kurator Thomas Ramge: dem Menschen das Denken abnehmen.

Die Ausstellung „Künstliche Intelligenz. Maschinen — Lernen — Menschheitsträume“ ist bis zum 6. November im Deutschen Hygiene-Museum, Lingnerplatz 1, Dresden, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Der Eintritt kostet 10 Euro (Kinder bis 16 Jahre frei). Telefon: 03 51 / 48 46-400

Die Begleitpublikation mit 192 Seiten ist im Wallstein Verlag erschienen und kostet 19,90 Euro.

 www.dhmd.de

Foto: Blick in einen Ausstellungsraum: Mit Künstlicher Intelligenz sind zahleiche Hoffnungen, aber auch Ängste verbunden; KI-gestützter Haustierroboter „Moflin“: Laut seinem japanischen Hersteller ist er zur Simulation unterschiedlicher Stimmungen fähig und soll auch zum therapeutischen Begleiter werden, mit dem Streß reduziert werden kann