© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/22 / 22. April 2022

Der wilde Osten Europas
Von der „Sintflut“ zu den Potemkinschen Dörfern: Die Geschichte der Ukraine bis ins 20. Jahrhundert zwischen Polen, Türken und Russen
Lothar Höbelt

Die Ukraine hat Konjunktur, zu ihrem Unglück einmal mehr als Schlachtfeld. Zwar war das klassische Schlachtfeld Europas die längste Zeit Flandern, wo nach einem erst viel später entstandenen Lied der Tod reitet. Oder besser gesagt: In Flandern marschierte er in Reih und Glied auf. Geritten kam er in der Ukraine. Denn dort fand der permanente Kleinkrieg statt, im Grenzgebiet der moslemischen Welt und der Christenheit, noch einmal gebrochen durch den Konflikt zwischen katholischen Polen und orthodoxen Moskowitern. Da ging es wohlgemerkt nicht mehr um weltgeschichtliche Entscheidungen. 

Die Expansion der Osmanen war schon im 16. Jahrhundert an ihre Grenzen gestoßen. Aber vor den Osmanen erstreckte sich ein Glacis, ein Niemandsland, das von beiden Seiten beansprucht wurde. Ein Teil dieser Zone war in Ungarn angesiedelt, ein noch viel größerer in der heutigen Ukraine. In der Ukraine fand sich auch ein Faktor, der in Ungarn fehlte: die Krim-Tataren, als muslimischer Vasall und militärischer Vorposten der Osmanen – und als Sklavenjäger großen Stils. Denn was in den modischen Diskursen um den atlantischen Sklavenhandel gern vergessen wird: Nicht bloß die Plantagen der Neuen Welt, auch die Haushalte des osmanischen Reiches fungierten als Magnet für zwangsrekrutierte Arbeitskräfte und Haremsdamen. 

Die „abendländische“ Komponente in Ungarn stellten die Habsburger, in der Ukraine die Polen. Oder besser gesagt, die „bessere Hälfte“ der polnischen „Adelsrepublik“, das Großfürstentum Litauen, das ursprünglich alle orthodoxen Gebiete des „Rzeczpospolita“ umfaßte. Erst mit der Union von Lublin 1569 wurde der südliche Teil davon mit Kiew an Polen transferiert. In Polen fand 1596 dann auch die Gründung einer „griechisch-katholischen“ Kirche statt, die ihre orthodoxe Liturgie (und ihre verheirateten Popen) behielt, aber die Oberhoheit Roms anerkannte. Diese „unierte“ Kirche setzte sich allerdings nur im westlichsten Zipfel des ukrainischen Siedlungsgebiets nachhaltig durch. 

Ukrainische Nationalbewegung knüpfte an Kosaken von 1648 an

Die Habsburger setzten als „cordon sanitaire“ gegen die Osmanen auf die „Grenzer“, vielfach orthodoxe Flüchtlinge vor den Osmanen. Die „Grenzer“ der Polen wurden als die Kosaken bekannt, darunter auch viele Bauern, die ihren Grundherren durchgegangen waren und das freie Leben im Niemandsland vorzogen. Das galt ganz besonders für die Kosaken im Süden, jenseits der Stromschnellen des Dnjepr, die als Saporoger Horde bekannt wurden, mit gewählten Offizieren und einer gewissen, im nachhinein gern mythisch überhöhten Selbstverwaltung. Wie im Wilden Westen Amerikas war man übrigens auch im Wilden Osten Europas anfangs keineswegs auf Mustangs unterwegs, sondern in Langbooten (Tschaiken = Möwen). Die Kosaken vollbrachten ihre Husarenstückchen zu Wasser, und stießen dabei schon einmal bis in die Umgebung von Konstantinopel vor. Der russische Historienmaler Ilja Repin hat in einem berühmten Gemälde die Legende festgehalten, nach der Kosaken dem Sultan einen unflätigen Antwortbrief schrieben... 

Diese Kosaken unter ihrem Anführer Bogdan Chmelnitzky waren es auch, die für die ukrainische Nationalbewegung im 19. Jahrhundert einen ersten Anknüpfungspunkt bildeten. Freilich: Maßgeblich war für Chmelnitzky immer noch in erster Linie der Gegensatz zwischen Katholiken und Orthodoxen. Außerdem oder sogar vor allem: Beim „Aufstand“ Chmelnitzkys 1648 handelte es sich um eine Meuterei der „registrierten“ Kosaken, der Grenzer, die auf ihren Sold und ihre Pensionen pochten. Denn der Polenkönig war mit den Zahlungen im Verzug und wollte Personal abbauen. Das ließen sich frühneuzeitliche Söldner nirgendwo gern gefallen. 

Im lockeren Gefüge der offenen Grenze nahm diese Auseinandersetzung bald größere Dimensionen an. Chmelnitzky wurde berühmt-berüchtigt, als er Lemberg plünderte. Diese Jahre, als Polen von Schweden und Siebenbürgern, Moskowitern und Kosaken gleichzeitig angefallen wurde, sind nach einem Roman von Sienkiewicz in die Geschichte eingegangen als die „Sintflut“: Die Bündnisse wechselten dabei rasch und nahezu kaleidoskopisch. So kamen die Tataren zur Abwechslung schon einmal den Polen zu Hilfe. Chmelnitzky wiederum verbündete sich einmal mit türkischen Vasallen, dann wieder mit den Moskowitern – der berühmte Vertrag von Perejaslaw 1654, der später gern als Zeugnis der Unterstellung unter Rußland hervorgekramt wurde, damals aber nur eine vorübergehende Episode darstellte. 

Als Resultat kristallisierte sich eine Teilung der Ukraine in Einflußsphären entlang des Dnjepr heraus. Bloß Kiew blieb seit 1668 unter russischer Oberhoheit, behielt aber seine polnische Oberschicht bis ins 19. Jahrhundert. Die Kosaken waren keine kompakte Größe. Jede der Großmächte, die hier Expeditionen in die Steppe entsandte, hatte „ihre“ eigenen Kosaken. Alle die berühmten Hetmane wie Chmelnitzky, Doroschenko, Masepa, wechselten immer wieder die Seiten. Masepa schloß sich dann sogar Karl XII. von Schweden an, der bis in die Ukraine vorgedrungen war. Die Niederlage Karls XII. bei Poltawa 1709 läßt sich da vielleicht sogar als das Ende der kosakischen „Unabhängigkeit“ stilisieren. Freilich: Zar Peter der Große, der Sieger von Poltawa, wäre zwei Jahre später beinahe selbst von einer osmanischen Armee gefangengenommen worden. Nur größere Bestechungssummen sollen den Zaren vor diesem Schicksal bewahrt haben. 

Die Ukraine wurde später berühmt für ihre fruchtbaren Schwarzerdeböden, als Brotkorb Europas, bis sowjetische Planer diesem Überfluß ein Ende machten. Doch im 18. Jahrhundert handelte es sich noch um ein relativ dünn besiedeltes Gebiet. Wieder liegt der Vergleich mit den Prärien des Wilden Westens nahe. Der russische Vorstoß spielte sich in erster Linie östlich der Ukraine ab, weniger entlang des Dnjepr, wo die Stromschnellen den Verkehr behinderten, sondern entlang des Don. In Woronesch, Hunderte Kilometer von der Mündung des Flusses entfernt, wurden seetüchtige Fregatten ausgerüstet. Doch die Osmanen sperrten weiterhin den Zugang zum Schwarzen Meer. Die Stadt Azow, an der Mündung des Don, wechselte mehrmals den Besitzer. 

Katharina die Große eroberte die Gebiete am Schwarzen Meer

Die Verankerung der russischen Dominanz erfolgte nicht zuletzt über den russischen Einfluß in Polen. Anfang des 17. Jahrhunderts hatten sich die Polen noch in die Thronstreitigkeiten in Moskau eingemischt, verewigt in kulturgeschichtlichen Denkmälern von Schillers falschem Demetrius bis zu Mussorgskis Boris Godunow. Ein Jahrhundert später erfolgte die Schubumkehr. Es gab im 18. Jahrhundert keine polnischen Könige mehr ohne die Zustimmung Petersburgs. Dem Sachsen August dem Starken, dann seinem Sohn wurde der Weg auf den polnischen Thron von russischen Truppen freigeschossen, bis eine energische deutsche Prinzessin, Katharina die Große, dann 1764 kurzer Hand ihren Liebhaber Stanislaus Poniatowski dorthin beorderte.

Der Durchbruch im Süden erfolgte mit Katharinas Krieg gegen die Türken ab 1768. Schon gegen Polen hatte man immer wieder das Motiv der Befreiung der orthodoxen Brüder bemüht. Diese Vorstellung wurde jetzt auch auf das Osmanische Reich projiziert. Katharina nahm da in erster Linie die Griechen ins Visier. Ihrem Günstling Potemkin wurde später nachgesagt, er wolle sich im heutigen Rumänien ein eigenes Fürstentum Dakien zurechtschneidern. Die russische Ostseeflotte tauchte 1770 in der Ägäis auf und gewann bei Tschesme eine Seeschlacht. Die Zeche dieses russischen Sieges zahlte übrigens in erster Linie Polen. Denn die Mächte waren an einem Zerfall des Osmanischen Reiches nicht interessiert, als Kompensation wurde Katharina ein Stück von Polen angeboten. Diese Erste Polnische Teilung jährt sich dieses Jahr zum 250. Mal. 

Als Ergebnis des Krieges wurde das Schwarze Meer für russische Schiffe geöffnet, die Krim-Tataren 1774 aus der Abhängigkeit der Osmanen entlassen und für „neutral“ erklärt – neutral natürlich für Rußland, bis Katharina ein paar Jahre später das Gebiet annektierte und Sewastopol gründete. Die Militärgrenze russisch-polnischer Prägung hatte ausgedient. Katharina löste die Saporoger Kosaken auf. Ihre Offiziere wurden in den russischen Adel integriert, die Soldaten galten als „Staatsbauern“, mit einer Stellung, die immer noch eine Spur besser war als für die meisten russischen „Leibeigenen“. 

Potemkin betrieb in „Neu-Rußland“ eine multiethnische Ansiedlungspolitik, die von „Neu-Serbien“ bis zu Parallelen der „Wolga-Deutschen“ in Bessarabien reichte. Von daher stammt die schöne Geschichte von den bloß aus Fassaden bestehenden Potemkinschen Dörfern, die er angeblich errichtet haben soll, als die Zarin 1787 höchstpersönlich zur Inspektion der neu erworbenen Gebiete anreiste. Für den römisch-deutschen Kaiser Joseph II., der auf Besuch kam, arrangierte man vor Ort übrigens ein „Reenactment“ der Schlacht von Poltawa. Knapp vor der Französischen Revolution, zu der Zeit, als Goethe von Krieg und Kriegsgeschrei weit hinten in der Türkei schrieb, eroberte Potemkin dann auch noch das Gebiet, wo bald darauf die Hafenstadt Odessa entstand. Die Stromschnellen am Dnjepr wurden gesprengt, bloß die großartig geplante neue Stadt Jekaterinoslaw mußte bald verlegt werden. Als Dnjepropetrowsk wurde sie in sowjetischen Zeiten zum Ausgangspunkt des Breschnew-Clans. 

Das ukrainische Siedlungsgebiet war nach der Zweiten Teilung Polens 1793 jetzt fast völlig von Rußland beherrscht – das Land war ukrainisch, die neu gegründeten Städte und die Küste nur zu einem viel geringeren Ausmaß. Außerhalb des Zarenreiches verblieben die griechisch-katholischen Ukrainer in Ost-Galizien und der Karpato-Ukraine. Auch hier bestanden die politischen und gesellschaftlichen Eliten selten aus Ukrainern, sondern aus Polen oder Ungarn. Aber die Habsburgermonarchie mit ihrem divide et impera bot immer noch bessere Bedingungen für die Entstehung einer ukrainische Nationalbewegung als das Zarenreich, das bei Volkszählungen zwar „Klein-Russen“ kannte, aber daraus ja keine politischen Folgen ableiten wollte. So mußte zum Beispiel der ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko prompt seine zehn Jahre Verbannung in Sibirien abdienen. 

Österreich-Ungarn war es dann auch, das 1918 in Brest-Litowsk die Anerkennung der unabhängigen Ukraine aushandelte. Aber das ist eine andere Geschichte. 






Prof. Dr. Lothar Höbelt lehrt Neuere Geschichte an der Universität Wien.

Foto: Ilja Repin, „Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief“, Öl auf Leinwand 1891: Die Bündnisse von Chmelnitzkys Kosaken wechselten dabei rasch und nahezu kaleidoskopisch