© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/22 / 22. April 2022

Der wohl größte Coup der Stasi
Mißtrauensvotum scheitert gegen Bundeskanzler Brandt
Jürgen W. Schmidt

Seit Oktober 1969 führte Bundeskanzler Willy Brandt eine SPD/FDP-Koalitionsregierung in Bonn. Vor allem wegen der Ostverträge traten zwischen 1970 und 1972 mehrere Bundestagabgeordnete der Regierungskoalition – prominenteste waren Herbert Hupka (SPD) und Erich Mende (FDP) – im Zorn zur CDU/CSU-Fraktion über und der ursprünglich einmal 12 Stimmen betragende Überschuß der Regierungskoalition im insgesamt 496 Abgeordnete zählenden Bundestag schmolz bis Anfang 1972 schnell zusammen. 

Oppositionsführer Rainer Barzel (CDU) plante deshalb nach genauer Kräfteabwägung den SPD-Bundeskanzler durch ein „konstruktives Mißtrauensvotum“ zu stürzen und eine CDU-FDP-Regierung mit ihm als neuem Bundeskanzler zu etablieren. Barzel war sich sicher, die dafür notwendige Stimmenmehrheit von 249 Stimmen im Bundestag zu erhalten, denn verschiedene FDP-Bundestagsabgeordnete hatten ihm insgeheim ihre Stimme zugesichert. Als nun Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel (CDU) am schicksalsträchtigen 27. April 1972 um 13.22 Uhr das Abstimmungsergebnis verkündete, versteinerten Barzels Gesichtszüge. Statt der sicher geglaubten 249 Stimmen hatten seinen Mißtrauensantrag gegen Bundeskanzler Brandt nur 247 Bundestagabgeordnete unterstützt. 

Unions-Abgeordnete Steiner und Wagner wurden bestochen

Damit war der Antrag, wenngleich nur ganz knapp, gescheitert. Von dieser krachenden Niederlage, die ganz maßgeblich die weitere Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bestimmen sollte, erholte sich Rainer Barzel nicht mehr. Schon bald löste ihn der junge und dynamische Helmut Kohl als CDU-Vorsitzender ab. Doch warum war der Antrag gescheitert – welche Bundestagsabgeordneten hatten Barzel die Gefolgschaft verweigert ?

Bestechungsgerüchte machten sogleich die Runde. Im Juni 1973 behauptete der umtriebige, geheimdienstnahe CDU-Bundestagsabgeordnete Julius Steiner (1924–1997), der parlamentarische SPD-Geschäftsführer Karl Wienand habe ihn für seine Stimmabgabe gegen den Antrag mit 50.000 D-Mark bestochen, wobei Abgeordnetenbestechung im Jahr 1972 noch nicht strafbar war. Obgleich Wienand sofort leugnete, hatte Steiner möglicherweise gleich doppelt kassiert, nämlich bei der SPD und bei der DDR-Staatssicherheit. Die Staatssicherheit hatte nämlich von der SED-Führung den Auftrag bekommen, wegen der Brandtschen Ostpolitik alles zu tun, um diesen im Sattel zu halten. 

Doch die Frage nach dem zweiten Mann blieb offen. Erst nachdem Stasi-Dokumente nach 1990 zugänglich wurden und einige einst beteiligte Stasi-Offiziere wie Günter Bohnsack und Horst Kopp zu plaudern begannen, gelang es, den zweiten Abweichler zu benennen: Es handelte sich um den geldbedürftigen, von der Stasi bestochenen CSU-Abgeordneten und engen Franz-Josef-Strauß-Vertrauten Leo Wagner (1919–2006). Die Stasi hatte damit am 27. April 1972 ihren wohl größten Coup gelandet.