© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/22 / 29. April 2022

Moskaus Drohungen parieren
Ukraine-Krieg: Deutschlands zentrale Lage läßt weder für Schaukelpolitik noch für Neutralität genügend Spielraum
Stefan Scheil

Es geht ein neues Gespenst um in Europa. Es ist das Gespenst des Atomkriegs. Der deutsche Bundeskanzler warnt ausdrücklich vor ihm und will deswegen keine schweren Waffen an die Ukraine liefern. Der russische Präsident seinerseits hat wiederholt unverblümt mit dem Einsatz von Kernwaffen gedroht. Geschichtlich einmalige Konsequenzen werde jeder zu spüren bekommen, der sich ihm in den Weg stelle, ließ er gleich zu Beginn des von ihm befohlenen Angriffs auf die Ukraine verlauten. Zwischenzeitlich versetzte Wladimir Putin die eigenen Atomstreitkräfte auch schon einmal in Alarmbereitschaft. Der mehrfach stattgefundene Einsatz von russischen Hyperschallraketen soll das entsprechende Bedrohungsgefühl im Westen steigern – und tut das auch.

Viele Gedanken und Äußerungen in der Öffentlichkeit kreisen aufgeregt um diese neue Situation in der Ukraine. Mancherorts, vor allem in Deutschland, wird angesichts der Zustände gleich zur Kapitulation geraten. Militärischer Widerstand gegen den russischen Vormarsch in der Ukraine kommt in der Bevölkerung und Teilen der Politik gelegentlich nicht nur in den Ruch des Aussichtslosen, sondern sogar in den des amoralischen Spiels mit der nuklearen Option. Auch deshalb zögert man in der Bundesrepublik mit weiteren Waffenlieferungen, während die europäischen Nachbarn zur Tat schreiten.

Die internationale Lage hat sich durch den russischen Angriff auf die Ukraine dramatisch verändert. Einen ähnlichen Einsatz der vollen Wucht militärischer Macht zur Durchsetzung neuer Grenzen und neuer Einflußzonen im Umfeld einer Weltmacht hat es seit 1945 in Europa nicht mehr gegeben. 

Auch weltweit sucht man mit nur wenig Erfolg nach ähnlichen Vorgängen. Sicher, die Volksrepublik China griff 1950 direkt gegen die USA in den Korea-Krieg ein, sie marschierte 1962 in Indien ein und attackierte 1979 obendrein das vorher jahrelang gegen die USA hochgepäppelte Vietnam. Aber Peking zog seine Streitkräfte nach solchen Machtdemonstrationen immer wieder weitgehend zurück. Nun scheint vieles anders, wobei die neue Aufregung um den Krieg bis hin zum Atomkrieg dennoch eher ein Ausdruck der allgemeinen Verunsicherung ist, als daß sie durch die tatsächliche Aussicht auf ihn begründet wäre. 

Seit vielen Jahren bringt die russische Propaganda die Sozialen Medien über die Frage zum Kochen, ob die Nato-Osterweiterung nach 1991 nicht ein „Vertrauensbruch“ gewesen sei. Sie findet dafür ein zahlreiches und erstaunlich gläubiges Publikum, das anderslautende Verweise mit einem standardisierten Vorrat an Argumenten des Stils „der Westen ist mindestens genauso unglaubwürdig“ weit von sich weist. 

Man wird aber kaum fehlgehen, vergleichbare Denkweisen in den Ratschlüssen manch sozialdemokratischer und christdemokratischer Verantwortungsträger in deutschen Regierungsstellen wiederzufinden. Und selbst die konservative Opposition gibt sich in dieser Frage wenig alternativ. Das parteipolitische Deutschland zeigt in weiten Teilen wenig Neigung, als Teil des Westens zu handeln. Es ignoriert eine zentrale Botschaft der jüngeren Vergangenheit: Deutschlands zentraleuropäische Lage läßt weder für Schaukelpolitik noch für Neutralität genügend Spielraum. Man mag die Europäische Union in ihrer gegenwärtigen Form für eine Plage halten. Im Kern liegt es im deutschen Interesse, zusammen mit seinen europäischen Nachbarn zu agieren.

So wird die Debatte um die Ukraine zum Teil einer innenpolitischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Es bleibt wenig Raum für eine außenpolitische Analyse, womit man es eigentlich zu tun hat und wo die grundsätzlichen Konflikte und vor allem die Interessen Deutschlands liegen. Die Erfahrungsräume westlicher und zumal bundesdeutscher Akteure schienen lange zu bestätigen, daß man mit jedem über alles reden könne und jeder Staat irgendwie ein Partner sei, unabhängig von seiner inneren Verfassung oder seiner ideologischen Disposition. Dazu haben die G8- und G20-Treffen der wirtschaftlich wichtigen Länder sicher ebenso beigetragen wie die Münchener Sicherheitskonferenz oder die alljährliche Pilgerfahrt der globalen Entscheidungsträger ins schweizerische Davos. Man traf sich, man lernte sich kennen, man tat freundlich zueinander, wenn nicht sogar freundschaftlich. Es entstand der Eindruck einer globalisierten Gemeinschaft der staatlich führenden Eliten. 

Daß hinter dieser Kulisse viel Bewegung herrscht und völlig grundsätzliche Feindschaften gepflegt werden, konnte schon länger von jedem beobachtet werden, der es sehen wollte. Den Kampf um die Weltmachtrolle Nummer eins hat die Volksrepublik China offen ausgerufen. In diesem Konflikt und eben in dem aktuellen Ukraine-Krieg befinden sich mit China, den USA und Rußland ständige Mitglieder des Weltsicherheitsrats in direkter, rechtsfreier Konkurrenz. Bundesdeutsche Medien kaschieren diesen Umstand regelmäßig mit der Floskel, dies oder das sei „völkerrechtswidrig“. Etwa der russische Angriff auf die Ukraine. Was jedoch völkerrechtswidrig ist, das stellt nach gängigem Recht ausschließlich der Weltsicherheitsrat fest, in dem sämtliche der eben genannten Staaten sitzen und ein Veto in eigener Sache haben. Die Zentrale der Nachkriegsordnung seit 1945 ist damit vollendet paralysiert. Offiziell völkerrechtswidrig ist in diesem Interregnum so gut wie nichts mehr. Eine neue Basis für eine von allen Großmächten akzeptierte Weltordnung zur Feststellung solcher Fakten muß erst noch gefunden werden. 

Der Konflikt in der Ukraine ist damit Teil einer größeren Auseinandersetzung, die in absehbarer Zeit kaum enden wird. Damit ist die deutsche Politik aufgefordert, nicht nur rhetorische „Zeitenwenden“ auszurufen. Unter den Großmächten dieser Zeit ist die Russische Föderation ohnehin die deutlich schwächste, demographisch, technologisch wie wirtschaftlich. Selbst ideologisch hat die Putinsche Mixtur aus großrussischem Imperialbewußtsein und Sowjetnostalgie wenig mehr zu bieten als jene Drohungen, die fast ganz Osteuropa schon unter den Nato- und EU-Schirm getrieben haben. 

Wenn die deutsche Politik in den unruhigen nächsten Jahrzehnten eine Rolle spielen will, dann wäre es eine schlechte Wahl, auf solche Drohungen mit der Illusion deutsch-russischer Sonderbeziehungen zu reagieren. Das würde die Gefahren nur verstärken. Deutschlands Zukunft liegt in einem Europa der Nationen, und das erfordert aktuell die Unterstützung der Ukraine als künftig integriertem Teil dieses Europas. Auch mit schwerem Gerät und trotz aller Atomgespenster.