© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/22 / 29. April 2022

„Den schlafenden Tiger geweckt“
Ukraine: Mit der russischen Offensive ist der Krieg in einer neuen Phase. Der Militäranalytiker, ehemalige Marineoffizier und OSZE-Ermittler für Kriegsverbrechen, Frank Ledwidge, über den Ausgang und neue Gefahren
Moritz Schwarz

Herr Dr. Ledwidge, besiegen nun im Osten die Russen die Ukrainer doch noch? 

Frank Ledwidge: Bisher scheint die russische Offensive nur wenig voranzukommen. Allerdings ist unklar, wie viele ihrer Kräfte sie eingesetzt haben. 

Sie meinen, der Hauptteil der neuformierten russischen Armee könnte noch gar nicht eingegriffen haben, die Ukrainer also doch noch überrannt werden? 

Ledwidge: Ich denke eher, das Ganze wird sich über einige Wochen hinziehen. Denn die Russen suchen zwar eine Vernichtungsschlacht – also den Gegner stellen und zerschlagen –, um den Krieg möglichst rasch zu entscheiden. Doch den Gefallen werden die Ukrainer ihnen nicht tun. Statt dessen werden sie ihnen eine Abnutzungsschlacht liefern – also ohne es zu einer Entscheidungsschlacht kommen zu lassen, möglichst viele Verluste zufügen. 

Schiebt die Ukraine damit das Unvermeidliche nicht nur hinaus? 

Ledwidge: Nein, denn ihr strategischer Vorteil ist der Zugang zum, wie ich sage, „Arsenal der Demokratie“, also den Waffenlieferungen aus dem Westen – dessen Potential enorm ist, während die Russen nur über begrenzte Reserven verfügen. Das Problem ist jedoch, daß diese Hilfe aus politischen Gründen nur langsam fließt. Doch je mehr moderne westliche Waffen in die Hände ukrainischer Soldaten gelangen, von denen viele seit 2014 im Donbass Kampferfahrung gesammelt haben, desto brenzliger wird es für die Russen. Deren Lage erinnert mich an die Japans nach dem Überfall auf Pearl Harbor, als der japanische Oberbefehlshaber, Admiral Yamamoto, ahnungsvoll feststellte: „Wir haben einen schlafenden Tiger geweckt!“ 

Klingt, als habe die Ukraine schon gewonnen. 

Ledwidge: Nein, aber die Zeit spielt für sie: Wir sehen ja, wie die USA und die Westeuropäer mehr und mehr aufwachen. 

In der Tat galt vor Wochen in Deutschland die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine als tabu, nun wird dagegen darüber heftig diskutiert. 

Ledwidge: Keiner weiß, wie der Kampf ausgeht, aber kann die Ukraine ihren Abnutzungskrieg wie bisher fortsetzen, läuft es wohl auf einen Stillstand der Offensive in einigen Wochen hinaus – dann wenn die Russen ihre Kräfte verbraucht haben. 

Also kein Sieg für Putin bis zum 9. Mai, dem „Tag des Sieges“, wie dieser ihn angeblich anstrebt? 

Ledwidge: Na ja, die Frage ist, was Putin zu Hause als „Sieg“ verkaufen kann. 

Sollten die Ukrainer tatsächlich nicht überrollt werden und die Offensive steckenbleiben – was folgt dann? 

Ledwidge: Dann beginnt eine neue Phase des Krieges – für die ich aber keine Glaskugel habe. Es könnte übrigens auch sein, daß Putin deshalb den 9. Mai als Vorwand nutzt, um zu erklären, daß es sich doch nicht um eine „spezielle Militäroperation“, sondern um einen Krieg handelt. Was ich mir allerdings nur schwer vorstellen kann ist, daß die Ukrainer einer Verhandlungslösung zustimmen, bei der sie jene Landstriche aufgeben, für die so viele ihrer Soldaten und Zivilisten gestorben sind. Also wird der Krieg dann wohl ins nächste Jahr gehen. 

Die Russen zu stoppen halten Sie also für gut möglich, die Russen zu besiegen eher nicht?

Ledwidge: Das sind eben zwei sehr unterschiedliche Ziele. Zweifellos ist letzteres zwar das, was die Ukrainer wollen, daß es ihnen gelingt, ist derzeit aber unwahrscheinlich. Außer die Russen überraschen erneut mit einem enormen Ausmaß an Inkompetenz, wie in der ersten Phase des Krieges. In der sie ja etwa ein Drittel ihres Materials verloren haben, das sie nun so schnell gar nicht ersetzen können. Ohne so eine erneute Überraschung jedoch stehen nach der Offensive wohl Russen, die nicht in der Lage sind, die Ukrainer zu besiegen, Ukrainern gegenüber, die nicht in der Lage sind, die Russen zu besiegen – im Klartext, ein Patt. Doch Krieg ist unvorhersehbar, und da alles, was dann passiert weit in der Zukunft liegt, ist es nicht möglich, seriöse Aussagen darüber zu machen. Auch wenn klar ist, daß die Ukraine, zumindest solange der Westen sie unterstützt, die strategisch größere Reserve haben wird. 

Das heißt, Rußland müßte dann Zugeständnisse machen oder den Westen zur Beendigung der Unterstützung zwingen – etwa durch Drohung mit Atomwaffen? 

Ledwidge: Nichts ist ausgeschlossen. Aber nochmal, ich habe keine Glaskugel. Jedoch würde ich spekulieren, daß Putin deutlich klargemacht worden ist, daß der Einsatz solcher Waffen zu Folgen führen würde, die das Ende seines Regimes bedeuten. Natürlich habe ich dafür keine Beweise, aber es scheint mir eine vernünftige Vermutung zu sein.

Was bedeutet die russische Offensive für die Zivilbevölkerung, werden die Opferzahlen nun erst so richtig in die Höhe schnellen ?

Ledwidge: Zumindest wird es zu vielen weiteren zivilen Toten kommen, ja – und ich fürchte, auch zu weiteren Kriegsverbrechen.

Debattieren wir im Westen zuviel wie Hobby-Strategen über die Offensive und machen uns wenig klar, welches Grauen sie für Soldaten und Zivilisten bedeutet? 

Ledwidge: Ich habe ja durch meine Einsätze auf dem Balkan viel Erfahrung mit Kriegsverbrechen und Zivilopfern und daher eine recht gute Vorstellung von diesem Horror. Ich hoffe also, es klingt nicht inhuman, wenn ich antworte, nein. Denn all das findet ja im Kontext des Krieges statt, und das heißt, das militärische ist das entscheidende Element! Wir haben es hier – und ich gehe mit diesem Wort nicht leichtfertig um – mit einer Art faschistischen Armee zu tun, die gestoppt werden muß.   

„Faschistisch“, ist das nicht ziemlich übertrieben? Kriegsverbrechen verüben schließlich fast alle Armeen. 

Ledwidge: Nein, denn es geht um systematische Kriegsverbrechen eines nationalistischen Regimes. Ich weiß natürlich, daß der Begriff „faschistisch“ auch polemisch benutzt wird, etwa von Präsident Selenskyj. Aber da ist tatsächlich etwas Wahres dran.  

Was macht Sie so sicher, daß die Angaben über die Kriegsverbrechen stimmen? Immer wieder heißt es „nach ukrainischen Angaben, die sich nicht überprüfen lassen“ oder „das zeigen Satellitenfotos der US-Firma Maxar Technologies“. Beides sind doch keine unbestechlichen Quellen.

Ledwidge: Weil die Methodik der Ukrainer, ihre Opfer zu zählen, in meinen Augen recht akkurat ist. Sie entspricht der, die auch die Uno verwendet, nur nachgewiesene Fälle als gesichert zu betrachten. Allerdings ist Ihr Einwand nicht unberechtigt, da bisher vor allem Ukrainer die Fälle untersuchen. Doch hat Kiew bereits unabhängige Gutachter aus westlichen Ländern und gar des Internationalen Strafgerichtshofs eingeladen. Wir werden also herausfinden, wie zuverlässig die ukrainischen Angaben sind.

Könnten die Ukrainer bis zu deren Ankunft die Dinge nicht manipuliert haben? 

Ledwidge: Die internationalen Gutachter, deren Teams sich aus erfahrenen Medizinern, Pathologen, Forensikern und anderen Experten zusammensetzen, untersuchen jeden Fall sehr genau. In Bosnien, etwa im Fall Srebrenica, hatten wir oft sogar erst nach ein oder zwei Jahren Zugang zu den Tatorten und sterblichen Überresten der Opfer und konnten dennoch die Abläufe noch recht genau ermitteln. 

Besteht nicht erhebliche Gefahr, daß die Politik Einfluß auf die Ergebnisse zu nehmen versucht? 

Ledwidge: Also ich habe so etwas in all meinen Einsätzen nie erlebt, und auch nie von einem meiner vielen juristischen Bekannten, die mit Kriegsverbrecherfällen zu tun haben, davon gehört. 

In Serbien etwa wird immer wieder der Vorwurf erhoben, die Opferzahlen von Srebrenica seien gefälscht.

Ledwidge: Ich weiß, aber das ist Propaganda. Ich war auf dem Balkan, war an der Aufklärung der Verbrechen beteiligt und habe an einigen Tatorten die Leichen auch selbst gesehen – während uns die Täter erzählten, es sei gar nichts passiert. Die russische Reaktion auf so etwas ist zunächst: „Es ist nichts passiert.“ Später: „Es ist passiert – aber wir waren es nicht.“ Und schließlich: „Sie haben es verdient!“ Wir dürfen nicht vergessen, daß dies die gleichen Leute sind, die uns auch weismachen wollen, daß die Mitarbeiter des russischen Militärnachrichtendienstes GRU, die glaubhaft für den Giftanschlag in Salisbury 2018 auf Sergej Skripal verantwortlich gemacht werden, nur deshalb in der Stadt waren, um ihrem historischen Interesse an mittelalterlichen Kathedralen nachzugehen. 

Der Tonkin-Zwischenfall 1965, die irakischen Säuglingsmorde von Kuwait 1991, die Massenvernichtungswaffen im Irak 2003 – alles von der US-Regierung frei erfunden und inszeniert, um Kriege herbeizuführen. Ist es da nicht grenzenlos naiv, nicht auch uns im Westen jede Lüge zuzutrauen, mag sie zunächst auch noch so absurd wirken?

Ledwidge: Als Militäranalyst kenne ich all die Fälle selbstverständlich. Im Irak habe ich selbst zu den Experten gehört, die die angeblichen „Massenvernichtungswaffen“ aufspüren sollten. Und ich weiß natürlich, daß es auch in der Ukraine bereits Lügen gab, denken Sie etwa an den Fall des „Geists von Kiew“ oder die Schlangeninsel, die zu Beginn des Krieges weltweit für falsche Schlagzeilen sorgten. Ich sollte allerdings hinzufügen, daß in diesen beiden Fälle von recht harmloser Kriegspropaganda ein Körnchen Wahrheit enthalten ist sowie, daß durch sie kein Schaden angerichtet worden ist. Ihr Grad an Verlogenheit ist also ein ganz anderer, als der im Fall Butscha oder gar der der Rechtfertigung für den kriminellen Angriff auf die Ukraine.

Im Fall des bombardierten Theaters von Mariupol, mit offiziell circa dreihundert Toten, soll es angeblich kaum Opferbilder geben – und die, die es gibt, sollen gestellt sein. Im Fall des Massakers von Butscha wird bezweifelt, daß, wie Ukrainer und Maxar Technologies behaupten, die Opfer dort schon drei Wochen auf der Straße gelegen haben. Denn zum einen seien die Toten erst drei Tage nach der Befreiung gemeldet worden, obwohl Journalisten und Offizielle den Ort bereits besucht hatten. Zum anderen zeigen Fotos die Kleidung der Opfer in erstaunlich frischem Zustand. Woher soll man also wissen, was stimmt?

Ledwidge: Sie sprechen Einzelfälle an, dazu aber kann ich Ihnen nichts sagen. Zwar hatte ich es auf dem Balkan und im Mittleren Osten auch mit Massakern mit vielen Opfern zu tun, von denen es dennoch kaum Fotos gab. Und was Butscha angeht, so kann die Kälte im März Tote durchaus für einige Zeit in gutem Zustand erhalten haben. Aber ich kann diese Einzelfälle natürlich auch nicht beurteilen, da ich weder Details kenne, noch dort war oder gar Nachforschungen anstellen konnte. Deshalb ist es ja so wichtig, daß sie unabhängig untersucht werden, und wir werden die Ergebnisse abwarten müssen. 

Sollten sich die Vorwürfe als zutreffend herausstellen, wie wäre das Verhalten der Russen dann zu erklären?

Ledwidge: In der russischen Armee herrscht eine andere Kultur als in westlichen Armeen. Unser Verständnis lautet, Aufgabe der Offiziere ist nicht, Menschen zu töten, sondern Gewalt im Sinne der Erfüllung ihres Auftrags zu regulieren. Dazu gehört, zivile Opfer zu vermeiden, sofern dies möglich ist – was ich betone, denn manchmal ist es das nicht. Natürlich kommen auch in westlichen Kriegen Zivilisten ums Leben. Dennoch macht es einen enormen Unterschied, ob eine Armee bemüht ist, gemäß der Genfer Konvention und den Regeln und Sitten des Krieges zu handeln, oder wie die Russen gezielt Zivilisten töten will. Und das läßt sich auch bereits belegen, etwa mit der russischen Kriegsführung in Grosny, Aleppo und anderswo, sowie in der Ukraine. 

Allerdings haben auch westliche Truppen im Irak und Afghanistan etliche schwere Kriegsverbrechen verübt. 

Ledwidge: Ich weiß, denn auch solche habe ich untersucht, und ich gehöre in Großbritannien diesbezüglich zu den kritischen Stimmen gegenüber unseren eigenen Streitkräften. Bei westlichen Armeen sind das aber Ausnahmen, 99 Prozent der Soldaten haben mit Kriegsverbrechen nichts zu tun. Gerade als kritischer Experte kann ich Ihnen versichern, daß das Vorgehen der russischen Armee systematisch ist. Sie folgen einer ganz anderen Doktrin, nämlich möglichst viel Terror zu verbreiten, um den Gegner einzuschüchtern und so Gegenwehr zu unterdrücken. Das ist mit der professionellen Kultur westlicher Armeen überhaupt nicht zu vergleichen.






Dr. Frank Ledwidge, der Jurist, Prozeßanwalt, Experte für Strategie, Militärgeschichte und humanitäres Kriegsrecht, geboren 1966, war als Nachrichtenoffizier der Reserve und Zivilist 15 Jahre für die britische Regierung und die OSZE im Einsatz. In Bosnien, Albanien, dem Kosovo, den GUS-Staaten, im Irak, Afghanistan, Libyen und Äthiopien untersuchte er Kriegsverbrechen, ermittelte gegen Kriegsverbrecher, suchte Massenvernichtungswaffen und diente als internationaler Ausbilder für Strafverfolgung und Folterprävention. Heute lehrt er an der Universität Portsmouth, gelegentlich am Royal Air Force College und dem College der Vereinigten Streitkräfte Großbritanniens. Er hat etliche Bücher verfaßt, von denen zwei „Buch des Jahres“ wurden, eines zum Kanon der Luftwaffe gehört. Er schreibt in führenden britischen Zeitungen, ist Gast und Berater des Fernsehens und wird vom Parlament und internationalen Institutionen als Experte gehört.

Foto: Russischer Panzer am 16. April in Mariupol: „Die Russen suchen eine Vernichtungsschlacht – doch den Gefallen werden ihnen die Ukrainer nicht tun und ihnen statt dessen eine Abnutzungsschlacht liefern. Dann würde der Krieg ins nächste Jahr gehen“