© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/22 / 29. April 2022

Recht haben und Recht bekommen
Mordfall Frederike von Möhlmann: Erstmals eine Wiederaufnahme nach rechtsgültigem Freispruch
Martina Meckelein

Verträumt schaut Frederike von Möhlmann in die Kamera. Sie trägt Pony und knapp schulterlange Haare. Ein frisches, ungeschminktes Gesicht. Vor über 40 Jahren starb dieses junge Mädchen unter grauenvollen Umständen. Frederike wurde 17 Jahre alt. Der mutmaßliche Täter sitzt heute in U-Haft. Ihm droht der Mordprozeß – allerdings, und das ist bisher einmalig in der Bundesrepublik: zum zweiten Mal. Grund dafür ist eine aktuelle Gesetzesänderung, doch die führt zu Kontroversen. Auf der einen Seite geht es um Gerechtigkeit für Mordopfer. Auf der anderen Seite um Rechtssicherheit für Verurteilte und Freigesprochene. Die Wahrung des Rechtsfriedens nehmen Befürworter und Kritiker des neuen Gesetzes gleichermaßen für sich in Anspruch. 

„Ich habe erst vergangenen Freitag noch mit dem Vater, Herrn von Möhlmann, gesprochen“, sagt sein Anwalt Wolfram Schädler aus Worms zur JUNGEN FREIHEIT. „Er hat aufgrund seiner vierten Corona-Impfung eine geschwächte Konstitution.“ Doch der Beschluß des Oberlandesgerichts Celle werde ihm sicher Auftrieb verleihen, denn der mutmaßliche Mörder seiner Tochter wird wieder vor Gericht gestellt.

Am 4. November 1981 verläßt Frederike von Möhlmann gemeinsam mit ihrer Freundin um 19.30 Uhr die Chorprobe in der Stadtkantorei in Celle. Die Gymnasiastin will nach Hause, ins zwölf Kilometer entfernte Oldau, doch um diese Uhrzeit fährt kein Bus mehr. Ihre Freundin leiht ihr zwanzig Pfennig, um zu telefonieren. Sie beobachtet noch, wie Frederike zum Hörer greift, dann geht sie. Ihre Freundin wird sie nie wiedersehen. Wen Frederike zu erreichen versucht, wird nie ermittelt. Sicher ist nur, zu Hause kommt sie nie an. Ihre Mutter erstattet Vermißtenanzeige. Es folgt eine Öffentlichkeitsfahndung. Erst am Sonntag, vier Tage später, entdecken Spaziergänger den Leichnam des Mädchens auf einer Lichtung im Wald bei Hambühren. Der Gerichtsmediziner stellt fest: frische Defloration, zwei Stiche in Herz und Lunge, sieben Stiche in Hüfte und Bein, zwei Stiche durch den linken Arm, und der Hals ist auf 22 Zentimeter von einem Ohr zum anderen so tief durchschnitten, daß der Kopf nur noch an der Wirbelsäule hängt. Die Tatwaffe muß ein langes, spitzes, beidseitig geschliffenes Messer sein.

Ein bestialischer Mord und ein Freispruch

Für die Kripo ergibt sich folgender Tathergang: Frederike hat niemanden telefonisch erreichen können, denn die geliehenen Groschen entdecken sie bei der Leiche. Sie wird zur gegenüberliegenden Bushaltestelle gegangen sein, um von dort per Autostopp nach Hause zu kommen. Sie hätte, so sagen es Zeugen, dies öfter getan. Ihre Mutter soll sie damit beruhigt haben, daß sie niemals zu Türken in den Wagen steigen würde und auch nur in Fahrzeuge mit Celler Kennzeichen.

Irgendwann nach 19.30 Uhr steigt sie wohl in ein Auto. Erst steuert der Fahrer es Richtung Oldau, biegt dann aber in einen Waldweg bei Hambühren. Er stoppt auf einer Lichtung. Ob er gleich das Messer zieht und sie bedroht? Die Fahnder gehen davon aus, daß Frederike vergewaltigt wird. Anschließend, während sich das Mädchen wieder die Kleidung anzieht, beginnt der Täter auf sie einzustechen. Die Tote läßt der Mann am Tatort liegen. Er steigt in den Wagen, fährt rückwärts – das ergeben die Reifenspuren – aus dem Wald. Und sie geben einen Hinweis auf das Fahrzeug: einen BMW 1602.

Solch einen Wagen, mit Celler Kennzeichen, fährt Ismet H. (22). Ein Kurde, der bei seinem Bruder in Celle wohnt. Ismet H. kann kaum lesen und schreiben. Der aus der Türkei stammende Mann hat Asyl beantragt, weil er sich von Großgrundbesitzern unterdrückt fühlt. Er lebt seit 1978 in Deutschland. Die Kriminaltechniker entdecken sieben verschiedene Faserspuren an der Kleidung des Opfers, die identisch sind mit Fasern im Fahrzeug, unter anderem von einem Orientteppich.

Ismet H. begegnet den Vorwürfen mit einem Alibi. Er sei am Tatabend mit der Familie seines Bruders und einem Nachbarn zusammen gewesen. 1982 beginnt der Prozeß vor dem Landgericht Lüneburg. Ismet H. streitet die Tat ab, doch sein Alibi bricht zusammen. Weder seine Familie noch der Nachbar wollen es bestätigen. Das Fasergutachten und das Profilgutachten der Reifen reichen dem Gericht als Indizien aus, um ihn zu einer lebenslangen Haftstrafe wegen Vergewaltigung und Mord zu verurteilen. 

Doch der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf und verweist es zurück an das Landgericht Stade. Ein Jahr später, am 13. Mai 1983, spricht das dortige Gericht den Angeklagten frei. Ein neues Gutachten soll zeigen, die Reifenspuren am Tatort hätten zwar das richtige Profil, aber die falsche Größe gehabt. Damit ist Ismet H. aus dem Schneider. Denn laut Artikel 103 Absatz 3 des Grundgesetzes gilt: „Ne bis in idem“ – Niemand darf für ein und dieselbe Tat zweimal angeklagt werden.

Die Jahre vergehen. Ismet H. gründet eine Familie, bekommt Kinder, lebt in einem großen Haus in einer Kleinstadt in Niedersachsen. Er scheint sich sicher. Doch Frederikes Vater, der am Gerichtsurteil zuerst nicht zweifelte, schreibt kurz vor seinem 70. Geburtstag im Jahr 2012 einen Brief an den niedersächsischen Innenminister, mit der Bitte um die Wiederaufnahme der Ermittlungen. Eine Sonderkommission wird gegründet. Das Landeskriminalamt Niedersachsen holt die Unterhose und die Slipeinlage aus der Asservatenkammer, läßt beides noch einmal untersuchen. Eine Sekretspur kann mittels DNA-Technik analysiert werden – und sie stimmt mit einer alten Haarprobe von Ismet H. überein.

Ein neues Gesetz erlaubt die Neubeurteilung 

Hans von Möhlmann versucht nun alles, um Gerechtigkeit für seine tote Tochter zu bekommen. Er klagt 2015 vor dem Landgericht Lüneburg auf Schmerzensgeld. Das Gericht weist die Klage ab; die zivilrechtlichen Ansprüche sind verjährt. Zwar bestätigt das Oberlandesgericht Celle 2016 das Urteil, aber es stellt fest, daß Frederike vergewaltigt und getötet worden ist. Parallel dazu stellte von Möhlmann eine Petition mit dem Titel: „Gerechtigkeit für meine ermordete Tochter Frederike: Der Mord muß gesühnt werden können“. Im September 2016 übergibt er die Petition im Bundesjustizministerium mit 105.000 Unterschriften. Der Aufruf ist immer noch im Netz abrufbar; bisher haben ihn 188.000 Menschen unterschrieben. Die Presse berichtet über die Aktion, es folgen Parlamentsdebatten.

Am 21. Dezember 2021 tritt das „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ in Kraft. Dabei wurde der Paragraph 362 Strafprozeßordnung ausgeweitet. In ihm werden die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Verfahrens, auch bei rechtskräftigem Freispruch des Angeklagten, aufgelistet: so zum Beispiel ein Geständnis oder eine zugunsten des Angeklagten gefälschte Urkunde. Auch das nachträglich verfügbare Beweismittel kommt dazu, wie eben die DNA-Analyse, die es Anfang der 1980er Jahre gar nicht gab. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat das Gesetz zwar unterschrieben, allerdings äußerte er verfassungsrechtliche Bedenken: „Vielmehr scheint es (das neue Gesetz Anm.d.R.) mir das Verbot der Mehrfachverfolgung in nicht lediglich marginaler Weise einzuschränken.“

Am 9. Februar 2022 beantragt die Staatsanwaltschaft Verden die Wiederaufnahme des Verfahrens, und das Landgericht Celle gibt dem statt. Mehr noch, es ordnet die Untersuchungshaft für Ismet H. an, schließlich drohe ihm Lebenslang und dies sei ein Fluchtanreiz. 

„Dringender Tatverdacht bestehe auch hinsichtlich des Mordmerkmals der Tötung zur Verdeckung einer anderen Straftat, nämlich der vorausgegangenen Vergewaltigung“, so das Gericht. Dies ergebe sich aus der zeitlichen Nähe zwischen Geschlechtsverkehr und dem Todeszeitpunkt. Unter Berücksichtigung der Angaben der im früheren Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer vernommenen Zeugen zu Frederikes Einstellung zur eigenen Sexualität „sei die Annahme eines einverständlich durchgeführten Geschlechtsverkehrs nicht ernsthaft zu erwägen.“

Wird das neue Gesetz Bestand haben? „Nach dieser Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle“, sagt Möhlmanns Anwalt Schädler der JF, „dürfte für den Gesetzgeber der Anlaß gering geworden sein, eine Neuregelung auf den Weg zu bringen.“

Fotos: Der Vater hält ein Bild der ermordeten Frederike in die Kamera: Ein neues Beweismittel kann Gerechtigkeit bringen; Hans von Möhlmann (2.v.l.), Vater der vor rund 35 Jahren ermordeten Frederike, mit seinem Rechtsanwalt Wolfram Schädler (M.) und dem Rechtsanwalt des Beklagten, Matthias Waldraff (r.): Unermüdlich klagt er und war so Stein des Anstoßes für eine Änderung des BGB; Stadtkirche St. Marien in Celle, Niedersachsen: Hier war das Mädchen zuletzt unter Freunden