© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/22 / 29. April 2022

Im Alltag der erzwungenen Ungezwungenheit
Tyrannei der Intimität
(wm)

Längst wird der Kunde nicht mehr exklusiv nur bei Ikea geduzt. Gegen die Ausbreitung der plump-vertraulichen Anrede scheint kein Kraut gewachsen, sie findet sich inzwischen sogar in amtlichen Schreiben. Auch die neue Arbeitswelt werde, wie die Redakteurin Theresa Schouwink im Philosophie Magazin (3/2022) klagt, von der „‚Tyrannei der Intimität‘“ (Richard Sennett) beherrscht. Denn in seine Arbeit solle sich der Mensch nicht nur mit fachlicher Qualifikation, sondern mit seiner ganzen Persönlichkeit einbringen. Dafür darf er auch gern in Turnschuhen kommen, damit ein „Klima freundschaftlicher Ungezwungenheit entsteht“. Und die Corona-Pandemie habe, all ihren „Abstand halten“-Warnungen zum Trotz, den grassierenden „Wir-Kult“ dadurch gefördert, daß der Akt der Impfung als „gemeinschaftsstiftendes Ritual“ inszeniert wurde. Eine Zeremonie, die dafür sorge, daß der Einzelne mit Haut und Haaren, existentiell, in die Bindung eines überpersönlichen Lebens übergehe. Dieses soziokulturelle Phänomen habe Helmuth Plessner (1892–1985), einer der Gründerväter der Philosophischen Anthropologie, während der Weimarer Republik als politische Bedrohung liberaler Gesellschaften beschrieben. Es scheine im digitalen Zeitalter der „geteilten Überzeugungen“ und „unmittelbar gelebter Moralität“ zurückzukehren. Bei Plessner könne man aber auch nachlesen, was konformistischer „Ungezwungenheit“ entgegenzusetzen ist: die Kultivierung des Taktgefühls, des Respekts vor dem Gegenüber in seiner Andersheit und damit das Festhalten an „der ersten und letzten Tugend des menschlichen Lebens“. 


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