© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/22 / 29. April 2022

Protokoll eines Verlöschens
Kino: Der Film „Vortex“ von Gaspar Noé konfrontiert den Zuschauer auf radikale Weise mit dem Unausweichlichen
Dietmar Mehrens

Als das Ende gekommen ist, reicht die Kraft nur noch für ein gehauchtes Vaterunser und die matte Hoffnung, daß das Gebet hinüberretten kann in jene unbekannte Welt, von der man immer wußte, daß man sie eines Tages würde betreten und diese, die bekannte, auf ewig verlassen müssen. 

Das ist die Brücke zum Filmanfang: „Der Gott, der mich schuf, ließ mir hängen den Kopf. [....] Ich werde morgen für immer Staub sein“, besingt dort eine namenlose Interpretin die Vergänglichkeit einer Rose und setzt damit den Ton für das, was folgt: ein Abgesang auf das Erdendasein.

Die bürgerliche Existenz gerät in einen vernichtenden Abwärtsstrudel

Minutiös und schonungslos zeichnet der Argentinier Gaspar Noé den Alltag eines in die Jahre gekommenen Ehepaares nach: Während sie, eine ehemalige Psychiaterin (Françoise Lebrun) sich morgens aus dem Bett quält und durch die Wohnung schleppt, bleibt er, ein italienischer Filmwissenschaftler (Dario Argento), liegen. Später setzt er, noch im Schlafanzug, sich in seinem Büro an die Schreibmaschine, um an seinem Buch über den Zusammenhang zwischen Traum und Kino zu arbeiten, während seine Frau einkaufen geht. Das Besondere dabei ist die geteilte Leinwand, ein filmisches Stilmittel, das sich vor allem in den sechziger Jahren einiger Beliebtheit erfreute.

Was damals eher eine Spielerei war, dient Gaspar Noés Requiem für eine Ehe als Möglichkeit, parallel den Wegen seiner beiden Protagonisten zu folgen, deren Leben nicht mehr ineinandergreifen. Er versucht sie anzurufen. Man sieht gleichzeitig ihn am Hörer und sie im Geschäft. Irgendwo in ihrer Tasche ertönt das Klingeln des Mobiltelefons. Warum geht sie nicht ran? 

Allmählich dämmert dem Zuschauer, daß die Frau alzheimerkrank ist und ihr Mann, der vor drei Jahren einen Schlaganfall hatte, auch nicht mehr in Bestform. Stéphane (Alex Lutz) taucht auf, der Sohn der beiden, mit ihrem Enkel Kiki im Schlepptau. Er sucht nach einer Lösung: Heim? Pflegedienst? Rasch tun sich neue Abgründe auf: Stéphane lebt von Kikis Mutter getrennt. Sie ist in Therapie. Er selbst ist rauschgiftsüchtig und prekär beschäftigt. Eine Gesellschaftsanalyse, so düster und desillusionierend wie bei Houellebecq. 

Den Sohn überfordert die gesamte Situation genauso wie seinen altersschwachen Vater. Als der schließlich einen Herzinfarkt erleidet, gerät die lange Zeit solide bürgerliche Existenz der Eheleute in einen vernichtenden Abwärtsstrudel („Vortex“ bedeutet „Strudel“ oder „Wirbel“), aus dem es kein Entrinnen gibt. Es ist die Urgewalt des Werdens und Vergehens, die Gaspar Noé, der selbst eine lebensbedrohliche Hirnblutung erlitt, zum Thema gemacht hat. Er nennt seinen Film „einfach die Geschichte eines genetisch programmierten Zerfalls, bei dem das ganze Kartenhaus in sich zusammenfällt“. Für die Präsentation bei den Filmfestspielen von Cannes wurde das beklemmend authentische Protokoll eines Verlöschens beworben mit dem albernen Satz: „Das Leben ist eine kurze Party, die bald vergessen sein wird.“ Er wird der Komplexität und Seriosität nicht gerecht, mit der Noé zu Werke geht.

Radikaler noch als der Österreicher Michael Haneke in seinem thematisch und stilistisch ähnlich gelagerten preisgekrönten Film „Liebe“ (2012) führt Gaspar Noé in „Vortex“ die Endlichkeit des Daseins vor Augen und, so formulierte es der 57jährige im Interview, „die Leere, die uns umgibt und in der wir schweben“. Das klingt indes nihilistischer, als der Film am Ende ist. Das experimentelle Werk, das ohne festes Drehbuch in knapp vier Wochen entstand, ist in seiner Intensität beeindruckend, fordert dem Zuschauer insbesondere während der reichlich lang geratenen Exposition allerdings auch einiges an Geduld ab.

Kinostart ist am 28. April 2022