© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/22 / 29. April 2022

Mal mystische Fee, mal Femme fatale
Göttinnen und florale Ornamente: Eine Sonderausstellung im Badischen Landesmuseum Karlsruhe zeigt den Aufbruch selbstbewußter Frauen im Zeitalter des Jugendstils
Felix Dirsch

Das frühe 20. Jahrhundert präsentiert sich als janusköpfig: Manche Strömungen kündeten von einem neuen, positiven Zeitalter, das bevorsteht. Andere wiederum erinnerten auf ihre Weise an die Dialektik der Moderne, die sich durch die immensen sozialen Verwerfungen der Maschinenwelt konkret im Laufe des 19. Jahrhunderts artikulierte. Ein solcher Blick auf die Gegenwart ging öfter mit einer tiefen kulturpessimistischen Stimmungslage einher. Zu den diversen Widersprüchen zählte der Anschein eines sozial dominanten christlichen Glaubens, der herausgefordert wurde durch moderne wissenschaftliche Sichtweisen auf Mensch und Welt. Für diese Perspektive stehen vornehmlich die Namen Darwin, Marx, Nietzsche und Freud.

Zwei Errungenschaften des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die zusammenhängen, verkörpern in besonderer Weise vorwärtstreibende Kräfte: das Kino mit seinen dynamischen Bildern und der bewegte Stil, der seinen Namen der Zeitschrift Jugend verdankt. Beides lag im Trend der Zeit. Jugendstil und Lichtspielprojektionen begegneten sich nicht zuletzt auf der Pariser Weltausstellung 1900. Die raschen Veränderungen in Technik und Industrie drohten viele Zeitgenossen zu überfordern. Symptome der Neurasthenie gehören zu den medizinischen Reflexen dieser Tendenz.

Rauchen wurde als Akt der Befreiung gedeutet

Zu Symbolen der Epoche wurde aber nicht nur der Wandel der dinglichen Welt. Er korrespondierte mit der zunehmenden Leidenschaft für Tanz, Gestik und Stimmungen. Niemand repräsentierte diese Kombination so sehr wie die US-Amerikanerin Loie Fuller (1862–1928). Die rhythmischen Umdrehungen der Bühnenkünstlerin und Erfinderin des Serpentinentanzes glichen der Schönheit einer Schiffsschraube im Wasser. Ihr Bewegungsrausch im farbigen Licht zog nicht nur das Publikum in ihren Bann; bald stellte man die ersten Plastiken her, die ihr Wirken symbolisierten.

Fuller war nicht die einzige prominente weibliche Ikone, die der Jugendstil hervorbrachte. Die überwiegend männlichen Künstler schufen ihre Göttinnen in erster Linie nicht deshalb, weil sie als Katalysatoren einer neuen Weiblichkeit fungieren, sondern für Werbezwecke fruchtbar gemacht werden sollten. Bisher unbekannte Formen der Unterhaltungs- und Konsumkultur benötigten Aushängeschilder. Auf zahlreichen Plakaten prangte eine männermordende Medusa neben kampfbereiten Amazonen. Frauen wurden als verführerische Femme fatale ebenso vermarktet wie als biedere Hausmütterchen. 

Unabhängig von herkömmlichen Rollenbildern ist das neue Selbstbewußtsein der Frauen kaum zu übersehen. Sogar das Rauchen deutete man gerne als Akt der Befreiung von herkömmlichen Geschlechterklischees, die besagten: Als Frau tut man so etwas nicht! Selbst technische Errungenschaften wie das Fahrrad eigneten sich als Instrument der Emanzipation, des weiteren setzten sich rasch neue Modeerscheinungen durch. Eine neue Frauenbewegung, die sich, von England herkommend, schnell in ganz Europa ausbreitete, forderte Mitsprache in allen Belangen des Lebens, insbesondere im politischen Bereich. Die Niederländerin Wilhelmina Drucker gehörte zu den besonders zähen Vorkämpferinnen des Frauenwahlrechts, ebenso die deutsche Sozialdemokratin Lily Braun.

Zu den bekanntesten Vertreterinnen dieses neuen Geistes in Europa zählt Sarah Bernhardt (1844–1923). Ihr wird in der Ausstellung ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Die berühmte Pariser Schauspielerin, deren schöne Stimme, anmutige Bewegungen und Temperament ihre zahlreichen Bewunderer in Entzücken versetzten, gilt als Göttin des Jugendstils par excellence. Nicht zufällig bringt man die vom Künstler Alfons Mucha für die Pariser Weltausstellung angefertigte Büste, deren Entstehungsgeschichte noch nicht restlos geklärt ist, mit der exzentrischen Diva in Verbindung. Ihre Begabungen erscheinen schier endlos.

Die unteren Schichten kämpften ums Überleben

Neben bekannten Repräsentantinnen wie Bernhardt und Fuller wird eine größere Zahl von Frauen vorgestellt, die in der Regel (gemessen an ihren Fähigkeiten) ein Schattendasein führten. So sieht man es jedenfalls in gehörigem Abstand. Stellvertretend ist auf Ilna Ewers-Wunderwald zu verweisen. Die chimärisch-magischen Welten nachsinnende Künstlerin machte als Designerin, Übersetzerin und Buchgestalterin auf sich aufmerksam. Wie bei den meisten aus ihrem Metier ist Nonkonformismus bei ihr großgeschrieben. Mit Kurzhaarschnitt und Herrenanzug machte sie auf sich aufmerksam.

Doch der Aufbruch der Neuen Frau in jenen dynamischen Zeiten läßt auch seine Grenzen erkennen. Die häufig geringgeschätzten Frauengestalten, vor allem die künstlerisch begabten unter ihnen, mögen von Männern oft diskriminiert worden sein. Im Vergleich zum Großteil ihrer Geschlechtsgenossinnen waren sie aber in toto privilegiert und in der Lage, ihren Leidenschaften zu frönen. Wer ein Fahrrad sein eigen nennen konnte, war in der Lage, ein Luxusgut zu nutzen. Die meisten Frauen indessen waren damals noch den Zwängen ihrer Alltagswelt verhaftet, vornehmlich in Familie und am Arbeitsplatz. Gerade den unteren Schichten blieb ein harter Kampf ums Überleben nicht erspart. Erst recht gilt dies für die nachfolgende Zeit des Ersten Weltkriegs und die weiteren Jahrzehnte. Eine nachhaltige Wende ereignete sich erst rund sieben Jahrzehnte später, als der mittlerweile gefestigte bundesrepublikanische Wohlstand neue Freiheitsspielräume eröffnete – auch und insbesondere für Frauen.

In diesem Kontext ist eine Aufnahme der sozial engagierten Fotografin Käthe Buchler um 1900 aufschlußreich. Wohl konnte sie ihr Potential nicht ausreichend entfalten. So lautet jedenfalls das durchgehende Narrativ der Ausstellung, das jedoch in Einzelfällen zu hinterfragen ist. Zu den beeindruckendsten unter Buchlers zahlreichen Motiven gehört eine dickliche, ärmlich gekleidete Frau, die vor einer Kirche Gemüse auf kleinen Stellagen und in Körben zum Verkauf anbietet. Wer dürfte damals ein angenehmeres Leben gehabt haben? Die damals junge Fotografin oder das ältere Objekt ihres Bildes? Ein weiteres Foto der Gattin eines wohlhabenden Unternehmers trägt zur Lösung des Rätsels bei: Ihre Tochter Ellen präsentierte sich, außer mit einem Fahrrad, im eleganten Kleid. Selbstbewußter ging es in der damaligen Zeit kaum!

Die aktuelle Schau mit ihren rund 200 Exponaten aus Sammlungen in Belgien, den Niederlanden und Deutschland läßt es zu, daß sich der Besucher in den Jugendstil und seine Atmosphäre versenken kann: Unzählige Werbeplakate, Gegenstände des (Alltags-)Designs, Schmuckstücke jedweder Art, Gemälde und Zeichnungen sowie eine Fülle weiterer Kunstproduktionen werden gezeigt. Der Interessierte fühlt sich in eine fremde Welt versetzt, die jedoch (in wohlbestimmter Hinsicht) als seine eigene gelten kann. Hat man den Jugendstil öfter als „Utopie der Versöhnung“ (Klaus-Jürgen Sembach) zwischen Kunst und Technik beschrieben, so wird vor dem Hintergrund der Karlsruher Präsentation eine weitere Vision der Zeit offensichtlich: die der Überwindung tradierter Geschlechterrollen. Jedenfalls im Rückblick ist dieser Aspekt nicht der unwichtigste.

Die Ausstellung „Göttinnen des Jugendstils“ ist bis zum 19. Juni im Badischen Landesmuseum Karlsruhe, Schloßbezirk 10, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Der Eintritt kostet 12 Euro (ermäßigt 9 Euro). Zu der Schau gibt es ein Begleitheft in leicht verständlicher Sprache. Telefon: 0721 / 926-65 14

 www.landesmuseum.de

Foto: Tänzerin Loie Fuller, Skulptur (Tischlampe), von Raoul Larche, Bronze, feuervergoldet, um 1900